Der Podcast „12 Leben - Verbrechen an Frauen“ behandelt das Thema sexueller Missbrauch in Einrichtungen.
Am Fall der Dorfgemeinschaft Tennental, einer Einrichtung von Menschen mit Behinderungen in Deutschland, in der ein Pfleger mehrere Bewohnerinnen sexuell missbrauchte, wird der Umgang mit sexueller Gewalt an Frauen mit Behinderungen behandelt.
Die Dorfgemeinschaft Tennental in Deutschland in der Nähe von Deckenpfronn ist eine Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Sie leben und arbeiten dort in einer Gemeinschaft. Es gibt Läden, Restaurants, eine Arztpraxis, einen Kindergarten und ein eigenes Theater, in dem regelmäßig mit den Bewohner:innen Stücke inszeniert werden. Die dorfähnliche Struktur soll Menschen ohne Behinderung anlocken. Es sei inklusiv, heißt es.
Eine der Bewohner:innen mit Behinderungen ist 41 Jahre alt und wird im Beitrag Nina genannt. Nina ist eines der Opfer des Pflegers, Lukas M., der über 15 Jahre hinweg nicht nur sie, sondern auch mindestens 7 weitere Bewohnerinnen sexuell missbraucht und vergewaltigt hat. Anhand der Geschichte von Nina wird das Thema sexuelle Gewalt in Einrichtungen behandelt.
Zu Gast sind Matthias Hacker, der Leiter der Dorfgemeinschaft Tennental und die Psychotherapeutin Elisabeth Udl, sie ist Geschäftsführerin des österreichischen Vereins Ninlil, einer Organisation, die sich mit Gewalt an Frauen mit Lernschwierigkeiten beschäftigt.
Die Tat aus der Perspektive des Opfers
Ein Teil der Sendung thematisiert auf sehr anschauliche Weise die sexuellen Übergriffe, die Nina erleben musste. Diese schwer verdaulichen Schilderungen sollen den Hörer:innen begreiflich machen, was es heißt, wiederholt Opfer solch schrecklicher Taten zu werden. Besonders schockierend ist, dass der Täter jahrelang Menschen mit Behinderungen sexuell missbraucht und die Taten erst aufgedeckt werden, als er diese selbst gesteht.
Wie konnte das passieren?
Ein weiterer Teil der Sendung beschäftigt sich mit den Strukturen, die solche Taten ermöglichen. Es sind bestimmte Mechanismen, die Frauen mit Lernschwierigkeiten leichter zu Opfern von Gewalttaten werden lassen. Die Expertin Elisabeth Udl zählt einige dieser Mechanismen auf:
- Absprechen von Entscheidungsfähigkeit: Vor allem Menschen mit Lernschwierigkeiten erleben es oft, dass ihnen nicht zugetraut wird, selbst zu entscheiden, was für sie gut ist. Sie sollen auf Betreuer:innen und Eltern hören, weil diese wissen würden, was für sie gut sei. Das führt laut Elisabeth Udl dazu, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten ihrem eigenen Urteil nicht trauen.
- Grenzüberschreitungen: Oft werden Handlungen an Bewohner:innen durchgeführt, ohne dass auf ihre Zustimmung gewartet wird. Zum Beispiel werden einer Frau einfach die Zähne geputzt, obwohl diese das nicht möchte. Die Betroffenen lernen daraus, dass ihre Grenzen und Wünsche sowieso nicht ernst genommen werden.
- Abhängigkeit von anderen Personen: Menschen mit hohem Pflegebedarf sind für alles, was sie brauchen, auf Hilfe angewiesen. Diese Abhängigkeit kann von Täter:innen leicht ausgenutzt werden. Abhängigkeit ist der Nährboden für unterschiedliche Formen von Gewalt, erklärt Elisabeth Udl.
- Fehlende sexuelle Aufklärung: Es sei wichtig, Menschen mit Behinderungen genauso altersentsprechend aufzuklären wie Menschen ohne Behinderungen. Oft passiert das gerade bei Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht, da ihnen unterstellt wird, auf einem nicht altersgemäßen Stand der Entwicklung zu sein und aufgrund dessen keine Aufklärung zu brauchen.
Das sei falsch, meint Elisabeth Udl, denn auch Frauen mit Lernschwierigkeiten werden erwachsen, brauchen sexuelle Aufklärung und ein Gefühl für den eigenen Körper und seine Bedürfnisse. Das ist auch wichtig zur Verhinderung von sexueller Gewalt, denn wer über seinen eigenen Körper Bescheid weiß und weiß, was ihm gefällt oder nicht, kann auch anderen gegenüber seine Grenzen aufzeigen.
All diese aufgezählten Gründe begünstigen die sexuelle Gewalt in Einrichtungen. Was im vorliegenden Fall noch dazu kam, war, dass Familienangehörige des Täters auch in der Einrichtung arbeiteten und diesen deckten.
Selbstbestimmung und Mitsprache
Die Lösung, meint Elisabeth Udl, sei ein Paradigmenwechsel weg von einem System, in dem Nichtbehinderte entscheiden, hin zu einem System, in dem Menschen mit Behinderungen selbst entscheiden, wie ihre Unterstützung auszusehen hat.
Menschen mit Behinderungen müssen in alle Entscheidungen miteinbezogen werden. Auch müsse man Menschen mit Behinderungen zuhören und sie ernst nehmen.
Die Einrichtung überarbeitete in Folge der schrecklichen Taten ihr Gewaltschutzkonzept und setzt Maßnahmen, um sexuelle Übergriffe künftig zu verhindern.
Bleibt die Frage, warum es erst mehrere Gewaltverbrechen braucht, damit die Einrichtung das Thema Gewalt ernst nimmt.
Die Sendung „Missbraucht in der Pflegeeinrichtung“ wurde am 15. Mai 2023 ausgestrahlt und kann auf Spotify gehört werden.