Die Wohnung nicht allein verlassen können und andere Barrieren

"Flo! Hallo Flohooo!?" Aber Florian Grams, der Autor des Artikels "Die Norm und die furchtbare Normalität - Barrierefreies Wohnen", hört mich nicht.

Frau im Rollstuhl vor Stufen. Sie schreit
Ruhm, Dipl.-Psych. Kassandra

Er steigt gerade aus dem Aufzug aus, in den ich auf der anderen Seite einsteige. Sei’s drum, ich kann nicht hinter ihm her sprinten, damit er mich bemerkt, sonst verpasse ich meine Regionalbahn von Bremen nach Norddeich Mole. Heute will ich mir nämlich einen schönen Tag auf Norderney machen.

Außer mir reist im Fahrrad- und Rollstuhlabteil noch eine andere Rollstuhlfahrerin mit ihrer Freundin, ihrem Bruder und seinem kleinen Hund mit. Alle vier ganz nette Personen. Kurz vor Delmenhorst sind wir bereits beim für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer so oft schwierigen Thema „Wohnen“ angelangt. Vor ein paar Tagen hat mich Flo gebeten, auch einen behindertenpolitischen Artikel zum Thema Wohnen zu schreiben. Ich habe extra meinen Laptop eingepackt, um während der Zugfahrt damit anzufangen.

Meine Reisegefährtin wohnt in einer Wohnung mit 5 Stufen. Nein, es gibt keinen Hintereingang, über den man wenigstens mit einem Umweg stufenlos in die Wohnung gelangen könnte. Früher konnte sie noch mit einem Rollator gehen. Seit 1,5 Jahren kann sie gar nicht mehr laufen – und damit auch gar nicht mehr alleine ihre Wohnung verlassen.

Glück hat, wer solch geschickte Freunde hat

Drei Türen hat sie mit dem Geld ihrer Versicherung verbreitern lassen müssen. Damit ist dieser Topf ausgeschöpft. Für behinderungsbedingte Umbauten zahlt die Pflegeversicherung bis zu 2.557 Euro, falls sie zuständig ist. Bei dem Geld, das nachträgliche Umbauten kosten, reicht das nicht weit.

Ihre Küche haben Freunde in einer Wunder-Aktion so umgebaut, dass sie mit dem Rollstuhl unterfahrbar ist. Das wäre mit einer Fachfirma absolut unbezahlbar für sie gewesen. Glück gehabt, wer solche geschickten Freunde hat.

Wohnung hinter Stufen

Die Kostenübernahme für eine Rampe für die 5 Stufen hat sie beim Amt für Soziale Dienste beantragt. Einen anderen Kostenträger gibt es nicht.

Ich selbst habe als junge Frau meine ersten 7 Jahre als Rollstuhlfahrerin in einer Wohnung hinter 4 Stufen verbracht. Ich weiß, wie schrecklich es ist, aus der eigenen Wohnung nicht einfach heraus und wieder herein fahren zu können, wenn man das möchte.

Bei meiner Wohnung gab es damals nicht genug Platz für eine Rampe, selbst wenn ich einen Kostenträger gefunden hätte. Bei meiner Reisegefährtin reicht der Platz aus, aber das Amt für Soziale Dienste hat abgelehnt. Die Rampe zu finanzieren, wäre unverhältnismäßig. Sie solle stattdessen in eine Altenwohnanlage ziehen. Damit hat sich die Sache für die Behörde anscheinend erledigt. Für meine Reisegefährtin nicht.

Abgesehen davon, dass sie in der Altenwohnanlage nicht mehr wie gewohnt an Bus und Bahn angebunden wäre und nicht mehr in unmittelbarer Nähe zu ihrer Freundin und in ihrem sozialen Umfeld wohnen würde, möchte sie nicht in einer abgesonderten Einrichtung für alte oder behinderte Menschen leben. Die Behindertenrechts-Konvention gibt ihr Recht. Das Amt für Soziale Dienste nicht.

Niemand darf in Sonder-Einrichtungen gedrängt werden

Artikel 19 der Behindertenrechts-Konvention legt fest, dass die Staaten „gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“. Niemand dürfte danach mehr gedrängt werden, in einer Alten- oder Behinderten-Einrichtung zu leben.

Die Behindertenrechts-Konvention ist ein Gesetz, das die Vereinten Nationen erarbeitet haben, um fest zu schreiben, was eingehalten werden muss, damit die Menschenrechte behinderter Menschen nicht verletzt werden. Seit 2009 ist sie in Deutschland gültiges Recht. Das Amt für Soziale Dienste hat trotzdem gegen die Rampe entschieden und auf die Altenwohnanlage verwiesen.

Bei der behinderten-politischen Beratungsstelle, die ich ihr empfehle, war sie schon. Ohne Erfolg, sagt sie.

Wenn es genug rollstuhlgerechte Wohnungen gäbe, wäre es verständlicher, wenn Umbauten nicht durch öffentliche Gelder finanziert würden. Aber die Frau hat durchaus versucht, eine andere, barrierefreie Wohnung zu finden. Auch ihr konnten weder die Gewoba noch das Amt eine barrierefreie Wohnung in einem normalen Wohnhaus anbieten. Das glaube ich sofort.

Angebote im Internet

Im April habe ich selbst sämtliche „barrierefreien“ Angebote auf den Internetseiten der Gewoba durchgeforstet. Die Gewoba ist die größte Wohnungsgesellschaft hier vor Ort. Sie befindet sich zu 74 % im Besitz der Stadt Bremen. Daher sollte sie nicht nur wirtschaftliche, sondern auch öffentliche Interessen verfolgen, finde ich. Außerdem wirbt die Gewoba ausdrücklich mit Barrierefreiheit. In ihrem Internetangebot konnte ich im April jedoch nur eine einzige Wohnung in ganz Bremen finden, die als „barrierefrei“ bezeichnet wurde. Allerdings haben Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer in dieser Wohnung keine Möglichkeit zu duschen oder baden oder auf den Balkon zu fahren.

Außerdem lag die Wohnung ganz am Stadtrand, in einem eher unbeliebten Stadtteil. Weit entfernt von allem, was in meinem Leben eine Rolle spielt.

Bei den „eingeschränkt barrierefreien“ Wohnungen gab es nur eine einzige, deren Eingang stufenlos erreichbar war. Bei allen anderen musste man 2 – 8 Stufen überwinden, bevor man überhaupt zur Wohnungstür kam. Auch für Menschen, die noch ein bisschen gehen können, aber mit Stufen Schwierigkeiten haben, finde ich das eine Zumutung.

Nicht nur in der eigenen Wohnung sitzen

Außerdem wäre es schön, wenn man nicht nur in der eigenen Wohnung sitzen, sondern auch andere Menschen zu Hause besuchen könnte, mit denen man Liebesgeschichten oder Freundschaften hat oder aufbauen könnte. Damit aus Bekannten Freunde werden und nicht immer entferntere Bekannte.

Eine behinderte Bekannte hat vor einigen Monaten eine neue Arbeit in Bremen gefunden. Auf der Suche nach einer barrierefreien Wohnung hat sie viele Stellen abgeklappert. Aus Mangel an Alternativen ist sie im Endeffekt in eine Gewoba-Wohnung mit 6 Stufen gezogen. Sie konnte ihren neuen Arbeitgeber nicht noch länger warten lassen, bis sie vielleicht eine angemessene Wohnung hätte bekommen können.

Kann sich außer mir noch jemand an die Werbeplakate erinnern, auf denen stand, Gewoba wäre immer da, wo Barrieren keinen Platz haben? Ich frage mich, ob das Zynismus ist oder wie man diese Werbung verstehen soll?

Ich bin froh, dass ich mich in meiner eigenen Wohnung wohl fühle, mich mit den vorhandenen Barrieren arrangieren kann und auch die Lage und die meisten meiner Nachbarinnen und Nachbarn mag. Nur darf sich an der Anzahl der Menschen, mit denen ich lebe, nichts ändern. Aus Liebes- oder familiären Gründen eine andere Wohnungsgröße zu brauchen, ist für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer ein Problem. Da denke ich manchmal mit Sorge dran.

Was wird als „barrierefrei“ verkauft?

Mal abgesehen davon, wie eng der Markt für barrierefreie Wohnungen ist: Selbst, wenn ich in eine Neubauwohnung ziehen könnte, die erst nach der Änderung der Bremischen Landesbauordnung Anfang dieses Jahrtausends „barrierefrei“ gebaut worden ist, wäre ich nicht sicher, dass ich mit Rollstuhl darin gut zurecht käme.

Die Änderung der Landesbauordnung hat zwar viele Verbesserungen in Bezug auf Barrierefreiheit mit sich gebracht. Aber die genauen Vorgaben und Maße zur Barrierefreiheit, die in den Technischen Baubestimmungen festgelegt worden sind, entsprechen nicht unbedingt den praxisnahen Angaben der Baunorm für Barrierefreien Wohnraum DIN 18025 oder der Nachfolge-Norm DIN 18040.

Bei den Verhandlungen damals konnten wir behinderten Menschen nicht durchsetzen, dass Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrern in den neuen, „barrierefreien“ Wohnungen die Fenster öffnen und lüften können, dass sie auf ihren Balkon fahren oder in einer rollstuhltauglichen, bodengleichen Dusche duschen können oder dass es zumindest baulich möglich sein muss, nachträglich eine solche Dusche einzubauen.

Auch die Wendeflächen, die damals aufgenommen wurden, entsprechen nicht den Maßen, die man braucht, um sich mit einem Rollstuhl in der eigenen Wohnung problemlos umdrehen zu können. Es wurden nur die Wendeflächen akzeptiert, die die Baunorm 18025 damals für behinderte Menschen vorsah, die nur hör-, geh- oder sehbehindert sind, aber eben nicht Rollstuhl fahren.

Damit es mehr rollstuhlgerechte Wohnungen gibt, wären zum Beispiel Änderungen und eine entsprechende Quote in den Bestimmungen der Landesbauordnung nötig. Von selbst kümmern sich die Bauherrn offensichtlich nicht darum und der Begriff „barrierefrei“ lässt leicht vergessen, dass Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer in den Wohnungen nach den aktuellen Vorgaben nur mit Kompromissen und Erschwernissen leben können.

Die allermeisten Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, die ich kenne, behelfen sich übrigens in Wohnungen, die nicht den Vorgaben der Barrierefreiheits-Norm 18025 bzw. 18040 entsprechen. Das bringt entsprechende Schwierigkeiten und Einschränkungen der Lebensqualität mit sich. Es gibt einfach nicht genug wirklich barrierefreie, bezahlbare Wohnungen.

So viel zu neuen Wohnungen, die nach der Bremischen Landesbauordnung „barrierefrei“ gebaut sind. Mal abgesehen davon, dass ich viele neue Gebäude kenne, die die Vorgaben der Landesbauordnung einfach nicht einhalten. In der Regel ohne dass dafür mit Konsequenzen durch die offiziellen Stellen zu rechnen wäre.

Wie froh bin ich, dass ich selbst gerade keine barrierefreie Wohnung suchen muss!

Gemeinschaftsaufgabe oder individuelle Verantwortung?

Wer ist dafür verantwortlich, für genug barrierefreien Wohnraum zu sorgen? Die betroffenen behinderten oder alten Menschen, weil es ihr persönliches Problem ist? Die Wohnungsgesellschaften oder Bauunternehmen?

Ja, ich denke, dass auch Wohnungsgesellschaften und Bauunternehmen in die Verantwortung genommen werden sollten. An behinderten Menschen hängt diese Aufgabe sowieso. Ich sehe die Verantwortung für genug barrierefreien Wohnraum aber zu einem großen Teil bei unserer Gesellschaft.

Denn Behinderung ist kein individuelles Schicksal, sondern eine gesellschaftliche Realität.

Genauso wie Straßenbau, Kindergärten und andere Gemeinschaftsaufgaben braucht eine Gesellschaft Wohnungen für alle Menschen, auch für den Anteil der Bevölkerung, der nun mal nicht einfach Stufen hoch und runter laufen kann. Das darf nicht zu einem individuellen Problem gemacht werden. Denn wer im Laufe des Lebens körperliche Möglichkeiten verliert und deshalb auf Barrierefreiheit angewiesen ist oder wessen Kind eine Behinderung bekommt, der hat vielleicht gerade ganz andere Sorgen und nicht genug Geld und Kraft übrig, um selbst barrierefreien Wohnraum zu schaffen.

Ich wünsche mir, dass in den nächsten Jahren der Staat die Verantwortung übernimmt und niemand mehr aufgrund von Wohnungsmangel in Sonder-Einrichtungen ziehen muss oder die eigene Wohnung nicht alleine verlassen kann.

Auf Norderney, wo ein großer Teil dieses Artikels entstanden ist, war es übrigens sehr schön. Ich wäre sehr gerne über Nacht und noch einen Tag länger geblieben. Aber wen wundert’s: Es war keine einzige barrierefreie Unterkunft zu bekommen. Also bin ich mit der letzten Fähre und dem letzten Zug zurück nach Bremen gefahren und habe dabei wieder neue Menschen kennengelernt. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.

P.S.: Kaum zu glauben, aber dieser Artikel ist von vorne bis hinten genau so passiert.

Nachtrag

Ich sitze gerade in einem Straßencafé und tippe letzte Korrekturen am Artikel, da fährt eine Straßenbahn mit Gewoba-Werbung vorbei. Der Werbespruch „Gewoba ist immer da, wo Barrieren keinen Platz haben“ wurde tatsächlich korrigiert. Jetzt heißt es: „wo Einschränkungen keinen Platz haben“.

Stimmt, für die Einschränkungen von gehbehinderten Menschen gibt es oft keinen Platz bei der Gewoba. Aber dass das „immer“ so wäre – so weit würde ich jetzt nicht gehen. Außerdem könnte die Gewoba die Barrieren in ihrem Bestand abbauen. Und die Finanzierung von Barrieren-Abbau nicht zu so großen Teilen den Mieterinnen und Mieter überlassen. Damit eben doch Platz für Menschen mit Einschränkungen ist – überall in Bremen und in bezahlbaren Wohnungen.

Schade nur, dass es bei anderen Baugesellschaften und privaten Anbieterinnen und Anbietern meist noch schlechter aussieht. Die werben nur nicht so groß damit.

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