Teil 9: Ein schönes und ein deprimierendes Beispiel

Mosaiksteine über das Zusammenleben von nichtbehinderten und behinderten Menschen.

Wochenmarkt in Bremen
Ruhm, Dipl.-Psych. Kassandra

Als ich an meinem Artikel „Drinnen oder draußen?“ geschrieben habe, sind mir zwei typische Beispiele eingefallen. Es gibt noch hunderte Geschichten mehr darüber, dazu zu gehören oder draußen zu stehen. Aber ich belasse es heute bei den beiden.

Ein schönes Alltags-Beispiel

Bei meinem netten Arbeitsplatz gibt es jeden Dienstag einen kleinen Wochenmarkt, über den ich regelmäßig fahre. Mittlerweile haben sich mit verschiedenen der Marktleute, bei denen ich häufiger kaufe, nette, gemeinsame Gewohnheiten entwickelt.

Außerdem erkundigen sie sich nach meinem Urlaub oder meiner Gesundheit, wenn ich länger nicht da war. Ich weiß vorher Bescheid, wenn Sie ihren Arbeitsplatz wechseln und wohin sie gehen. Ich erfahre, ob und warum sie mit ihrem Mann in die Schweiz ziehen oder in Oldenburg eine Ausbildung zum Veranstaltungstechniker machen und welche Hürden es auf dem Weg zu besagtem Ausbildungsplatz gab. Und dass sie bei Freiluft-Veranstaltungen gerne darauf hinweisen werden, dass man rollitaugliche Dixi-WCs anmieten sollte.

Zwei der Marktleute haben versucht, mit mir einen privaten Kontakt außerhalb des Marktes aufzubauen. Einer hat mich dazu sogar mit einer ganzen Sammlung von entzückenden und überzeugenden Komplimenten bedacht.

Das Marktgelände ist komplett rollstuhlzugänglich. Deshalb gehöre ich „dazu“. Obwohl ich mich gar nicht darum bemüht habe.

Ungleiche Chancen

Wahrscheinlich wäre ich auf dem Wochenmarkt weniger gut eingebunden, wenn ich z.B. eine stärkere Spastik im Gesichtsbereich hätte und sprachbehindert wäre. Ich hätte mich zumindest mehr darum bemühen müssen, durch Charme, Witz, Freundlichkeit und gute Laune zu überzeugen. Diese ungleichen Chancen sind nicht fair.

Viele Nichtbehinderte finden, ich sähe „normal“ aus, „außer dass ich einen Rollstuhl benutze“. (Ich selbst finde, ich sehe mit meinem Rollstuhl normal aus. Ohne fände ich es mittlerweile etwas seltsam.) Aber mein hübscher, praktischer Rollstuhl reicht aus, um in einigen Menschen Befremden und Unsicherheit auszulösen. Noch halbwegs gut ins Schönheitsideal zu passen, oft fröhlich zu sein, leicht reden zu können und schlagfertig zu sein, macht es allerdings wieder leichter.

Unabhängig davon, wie „normal“ andere unser Aussehen finden: Mit regelmäßigen Kontakten, wie denen auf meinem Wochenmarkt, können Nichtbehinderte ihr Gefühl von Fremdheit und ihre Unsicherheit mit der Zeit überwinden, wenn sie es wollen.

Ein deprimierendes Beispiel

Mir ist noch ein anderes Beispiel eingefallen. Es ist ein deprimierendes Beispiel, obwohl es von den andern überhaupt nicht böse oder ausgrenzend gemeint ist.

Wie schon erwähnt, bin ich lesbisch, aber das Beispiel passt vermutlich auch für viele andere Interessengruppen. Lesbisch zu sein, ist für mich viel mehr als eine sexuelle Vorliebe, sonst würde ich nicht in Artikeln darüber schreiben. Es ist meine Lebensform. Nicht nur im Bett, sondern in vielen Bereichen meines alltäglichen Lebens hat es Auswirkungen.

Weil ich mich gerne auch in dieser Hinsicht ab und zu nicht „anders als die andern“ fühlen möchte, investiere ich viel Energie in Kontakte mit anderen Lesben.

Wenn sich eine passende Gelegenheit ergibt, unterhalte ich mich auch mit Lesben, die ich noch nicht gut kenne. Weil viele Szene-Orte sowieso nicht barrierefrei sind, versuche ich bei den wenigen Gelegenheiten meistens, kontaktfreudig und möglichst angenehm im Umgang zu sein, um einem neuen Kennenlernen einen leichten Weg zu ebnen. Manchmal klappt das sogar ganz gut.

Wenn ich die selbe Frau das nächste Mal wieder sehe, sind oft viele Monate oder 1-2 Jahre vergangen. Bei allen andern potenziellen Gelegenheiten war ich aus den Gründen, die ich in meinem letzten Artikel beschrieben habe, nicht dabei.

Für mich ist es die allererste Gelegenheit, den Kontakt fortzusetzen. Ohne genau darüber nachzudenken, hinterlässt es mich traurig, zu merken, dass meistens nichts fortgesetzt wird, sondern ich als Fremde behandelt werde.

Man müsste extra darüber nachdenken …

Während das die Geschichte ist, die ich erlebe, erlebt mein nichtbehindertes Gegenüber vermutlich eine ganz andere Geschichte. Für sie haben wir uns nett unterhalten, aber dann habe ich Monate oder Jahre nicht mehr mit ihr geredet. Anscheinend will ich nicht näher mit ihr zu tun haben. Wahrscheinlich hat sie nicht darüber nachgedacht, warum ich nicht mehr mit ihr rede.

Deshalb ist ihr nicht aufgefallen, dass es daran liegt, dass ich, wegen der alltäglichen Barrieren, bei den anderen Gelegenheiten gar nicht dabei sein konnte. Man könnte außerdem sagen, ich habe sehr wohl geredet, sogar viel. Sie hat sich nur nicht in die Räume begeben, in denen sie mich hätte hören können.

Defakto hat es keine netten Begegnungen und noch nicht einmal einen kleinen Smalltalk mehr gegeben. Sie hat sich daran gewöhnt, dass ich nicht zu dem Kreis derer gehöre, mit denen sie etwas plaudert, wenn sie sie trifft.

Das könnte erklären, dass ich von manchen Frauen, wenn überhaupt, dann gerade mal knapp zurück gegrüßt werde, wenn wir uns das nächste Mal treffen.

Wachstumsbedingungen

Ein Kontakt, der so verbindlich ist, dass wir ihn unabhängig von zufälligen Treffen planen und fortsetzen würden, wächst nicht. Dazu müsste ich entweder regelmäßig bei Treffen dabei sein können oder die andere Seite müsste dafür sorgen, dass es Gelegenheiten gibt, bei denen unser Gespräch fortgesetzt werden kann.

Von selbst passiert das nicht, wenn ihre üblichen Treffpunkte nicht barrierefrei sind. Wenn sie sich nicht auf die Bedingungen einstellt, unter denen ich mit ihr in Kontakt treten kann, kann ich mich noch so anstrengen und es wird nicht viel dabei heraus kommen. Die Sub-Gruppen bleiben schön voneinander getrennt. Auch wenn die Ursache nur das fehlende Nachdenken und Einnehmen anderer Perspektiven war.

Vergleichbar ist es, wenn ich mich in Räumen aufhalte, die nur teilweise mit Rollstuhl erreichbar sind. Mit flüchtigen Bekannten, die im nicht-zugänglichen Teil hinter Stufen sitzen, kann ich keinen freundlichen Small-Talk anfangen. Wenn wir uns nicht schon gut genug kennen, kommen erstaunlich viele gar nicht auf die Idee, dass sie zu mir herunter kommen müssten, um die höflichen paar Sätze oder mehr mit mir auszutauschen. Beim nächsten Treffen behandeln sie mich fremder als vorher.

Auch bei Demonstrationen oder anderen Wanderungen in größerer Gruppe erlebe ich etwas Ähnliches. Im Vergleich zu früher, als ich noch nichtbehindert war, reden viel weniger Menschen mit mir. Ihre Kopfhöhe und ihre Gesprächsebene liegt deutlich höher als meine. Es ist anstrengender für sie, sich beim Gehen nach unten zu verständigen. Wenn ich mit einzelnen FreundInnen unterwegs bin, ist das kein Problem. Aber wenn es genug kopf-hohe GesprächspartnerInnen gibt, falle ich ab und zu hinten über.

Natürlich werden auch Nichtbehinderte manchmal unfreundlich behandelt. Manchmal hat die andere einfach einen schlechten Tag oder sie muffelt sowieso immer alle an. Aber das ist kein Widerspruch zu dem, was ich eben beschrieben habe. Eine behinderungs-unabhängige Unfreundlichkeit kommt bei uns zu den anderen Kontakthemmnissen noch dazu.

Man könnte allerdings auch gezielt die Behinderung nutzen und versuchen, durch die Bitte um kleine Hilfen in Kontakt zu kommen oder andere an sich zu binden … Aber das ist ein anderes Thema und wurde in einem andern Artikel behandelt.

Dieser Artikel ist eine Kurzfassung von einem Text, der auch in voller Länge sehr lesenswert ist! Link zur längeren Fassung.

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