Die Liberale Heide Schmidt hat im Standard die politische Diskussion über die Sterbehilfe eröffnet. Ihre Forderungen werden vom Arbeitskreis "Menschen - würdig sterben" unterstützt. Wie sehen die Erfahrungen in anderen Ländern aus?
Im „Der Standard“ erschienen: Als eine 78jährige Frau am 9. April 1971 mit einer Hirnblutung in das Krankenhaus in Assen aufgenommen wurde, konnte niemand wissen, daß ihr Fall weitreichende Konsequenzen haben würde. Als ihr Mann Aad zehn Jahre zuvor mit viel Schmerzen nach langer Krankheit gestorben war, schwor sie sich, am Ende so nicht leiden zu wollen.
Zunächst wurde sie künstlich am Leben erhalten, dann wachte sie auf – und war zu ihrem Erschrecken halbseitig gelähmt. Später wurde sie in das Pflegeheim in Oosterwald gebracht. Ihre Tochter, Gerda A. Postma-van Boven, die im friesischen Noordwolde mit ihrem Mann eine Hausarzt-Praxis hatte, verstand die Worte der Mutter: „Ihr hättet mich nicht in dieses Heim bringen dürfen.“ Am 19. Oktober 1971 gab die Tochter ihrer Mutter in Anwesenheit ihres Mannes Aad eine tödliche Injektion.
Der Leichenbeschauer versprach, die Sache geheim zu halten. Doch einen Tag später zeigte er das Paar an. Am 7. Februar 1973 wurden sie angeklagt und zur Höchststrafe von 12 Jahren verurteilt. Der Fall erregte viel Aufsehen, in den Zeitungen tobte ein Streit der Meinungen. Zur gleichen Zeit gründeten nach einer Unterschriften-Aktion zugunsten des friesischen Ärzte-Paares 1200 Menschen die Niederländische Euthanasie-Vereinigung (NVVE). Die Postmas bekamen schließlich eine leichte Strafe – und wurden von Sympathisanten mit Blumen überhäuft.
Regeln für Euthanasie
25 Jahre später hat der NVVE mit 90.000 Mitglieder und die Niederlande die bemerkenswerteste Sterbehilfe-Gesetzgebung der Welt. Zwar ist „Euthanasie“ (griechisch „schöner Tod“) formell verboten, in Wirklichkeit werden Ärzte kaum verfolgt – egal ob sie die Geräte bei einem Koma-Patienten abschalten (passiv) oder ob sie einen Todes-Cocktail oder -Spritze verabreichen (aktiv). Zwischen 2300 und 3500 Menschen (130.000 Sterbefälle im Jahr) sterben in Holland jährlich bewußt durch die Hand eines Arztes, der Großteil in familiärer Umgebung mit Hilfe des Hausarztes. Aber auch in Krankenhäusern gibt es inzwischen Rituale, bei denen sich Familien und Freunde etwa am Samstag um 16 Uhr zur letzten Stunde eines teuren Freundes treffen. Krankenschwestern und Ärzte haben mehrheitlich Respekt vor dem Wunsch des Sterbenden entwickelt.
Das medizinische Personal muß sich an Regeln halten. So muß der Patient keine Aussicht auf Heilung haben und unerträglich leiden – der den Todesakt ausführende Arzt muß das von einem unabhängigen Kollegen diagnositizieren lassen. Den Todeswunsch muß der Todkranke bei klarem Verstand ausgesprochen haben. Außerdem muß der Arzt nach dem Todesakt ein Protokoll ausfüllen und sich bei der Staatsanwaltschaft selbst anzeigen.
Die heutige Praxis ist eher das Resultat einer Reihe von Prozessen, bei denen die Grenzen in Gerichts-Verhandlungen verlegt wurden, als das Ergebnis einer zielgerichteten Politik. Und natürlich eine Frucht der Lobby-Arbeit des Euthanasie-Vereins NVVE. Die gesellschaftliche Stimmung, die seit Ende der 60er und im Verlaufe der 70er Tabu für Tabu (Abtreibung, Drogen usw.) hinweggefegt und aus den Niederlanden eines der freiesten Länder Europas gemacht hatte, revolutionierte auch den behördlichen Umgang mit dem Thema. Schon Mitte der 70er ermittelten Umfragen mehr als 60 Prozent Zustimmung für die These „Euthanasie muß legal werden“.
Aber natürlich weht der Wind den Euthanasie-Befürwortern auch mal hart ins Gericht. „L‘ Obesvatore“, päpstliches Sprachrohr, verglich die niederländische Sterbehilfe-Praxis mit Auschwitz. Fundierte Kritik kam von Ärzten in den Niederlanden und aus dem Ausland an der fehlenden Ausbildung der Medizinstudenten in Schmerztherapien. Häufig, so die Kritik, würden Patienten nur deshalb am Ende ihres Lebens unerträglich leiden, weil die Ärzte zu wenig Ahnung von Schmerz-Therapie hätten. Gesundheits-Ministerin Els Borst, die der die völlige Legalisierung befürwortenden Partei D’66 angehört, bestätigte die Defizite in der Schmerzbekämpfung und lobte Sterbe-Hospize. Geld für mehr Sterbe-Therapie oder Hospize wolle sie aber nicht bereitstellen – was zynisch wirkt, da der Sterbehilfe-Akt natürlich nichts kostet.
Immer wieder sind spektakuläre Einzelfälle in den Medien. Da wird ein Kinderarzt freigesprochen, nach dem er ein wenige Tage altes Kind (offener Rücken, Wasserkopf) auf Verlangen der Eltern tötete. Das ist gegen das Gesetz, da ja das Baby nicht selbst um den Tod bat. Da ging ein Psychiater frei aus, obwohl er gegen alle Regeln eine nichtkranke und körperlich gesunde Frau tötete – sie hatte den Tod ihrer zwei Söhne (Selbstmord bzw. Krebs) sowie die Schläge ihres saufenden Mannes nicht mehr ausgehalten. Die Krankenschwester Martha U. wurde in einem Altersheim in Delfzijl zum „Engel des Todes“, als sie reihenweise Alzheimer-Patienten totspritzte. Sie nannten es Euthanasie. Kein Opfer hatte um die Todes-Spritze gebeten. Und dann gibt es Ärzte, die sich für Gott halten und die Regeln nach Gutdünken für sich zurechtbiegen – etwa keinen Kollegen hinzuziehen, weil man ja allwissend sei. Hingegen läßt sich das häufig angenommene Vorurteil, in den Niederlanden würden erbschleichende Familien-Angehörige Sterbende reihenweise in die Gräber drängen, kaum beweisen.
Neue Kultur des Todes
Inzwischen hat sich nach dem Durchbrechen des Tabu-Thema „Tod“ rund um das Sterben eine Sub-Kultur entwickelt. Vor allem in der Homo-Szene in Amsterdam ist es inzwischen schick geworden, den AIDS-bedingten Tod eines Freundes zu einem regelrechten Fest werden zu lassen. Auch Heteros finden so etwas schick. Kleine Firmen haben sich auf die verrücktesten Ideen spezialisiert: Anhänger von Ajax Amsterdam können sich auf einem Stück des Ajax-Rasen auf dem Friedhof ausstreuen lassen. Aber auch die „normalen Firmen“ warten mit Laser-Shows, Kaffee und Kuchen am Grab oder anderen unorthodoxen Ideen auf.
Die Sterbehilfe soll nun neu geregelt werden. Um die Streitfälle zu mindern und die Hausärzte endgültig aus der kriminellen Sphäre zu holen, sollen im ganzen Land bis zu sechs Sterbehilfe-Kommissionen eingerichtet werden. Diese, bestückt mit Ärzten, Ethikern/Pfarrern, Rechtsexperten wie Anwälten und Staatsanwälten sollen künftig beurteilen, ob ein Sterbehilfe-Gesuch vertretbar ist oder nicht. Heben die Kommissions-Mitglieder den Daumen, dann darf der Arzt den Patient auf dessen Verlangen töten.