Seit der Ausstrahlung der ORF-Sendung häufen sich die Unmutsäußerungen zu der Ö1-Sendung. Wir bringen hier beispielhaft einen Offenen Brief von Barbara Sima-Ruml.
Gemäß dem Motto „Ö1 gehört gehört“ werden wohl viele Menschen kürzlich die Sendung „Barrierefreies Bauen“ von der Journalistin Sabine Oppolzer mit Walter Stelzhammer, der Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Wien, Niederösterreich und Burgenland und dem Architekten Wolfgang Löschnig gelauscht haben. (Übrigens nicht die erste Sendung dieser Art von Frau Oppolzer.)
Was bei dieser Sendung an Unrichtigkeiten und dumpfen Vorurteilen seitens der Redakteurin Oppolzer und Herrn Stelzhammer verbreitet wurde, spottet jeder Beschreibung (Hörtipp!).
Ihrer Verärgerung Luft gemacht hat sich Barbara Sima-Ruml (Bild) mit diesem Offenen Brief, den wir zur Gänze abdrucken. (Sollte es eine Reaktion seitens des ORF oder der Redakteurin Sabine Oppolzer geben, werden wir über dies gerne berichten.)
Offene Brief
Sehr geehrte Frau Oppolzer!
Leider habe ich von Ihnen noch keine Reaktion auf meine e-mail vom 21.08.2013 nach Ihrer Sendung im Kulturjournal von Ö1 zum Thema „Barrierefreies Bauen“ bekommen. Deshalb erlaube ich mir, einen offenen Brief an Sie zu richten. Nach dem gestrigen Kulturjournal war ich echt geschockt und muss Ihnen daher einfach einige Dinge darstellen. Beginnen wir mit Ihrer Einleitung zu der Radiodiskussion.
Die EU ists gewesen!
Sie erwähnen Bestimmungen zum Thema barrierefreies Bauen, welche die EU erlassen hätte. Meines Wissens, gibt es keine solchen Bestimmungen. Wenn es aber welche gibt, bitte Frau Oppolzer, lassen Sie mir diese zukommen! Oh wie sehr würden solche „Bestimmungen“ mein Leben erleichtern! Ich kenne nämlich nur die Richtlinien des Österreichischen Instituts für Bautechnik (kurz: OIB Richtlinien), die sich in der Richtlinie 4, Nutzungssicherheit und Barrierefreiheit näher mit dem Thema des barrierefreien und des Anpassbaren Wohnbaus befassen.
Sie verweisen in Teilbereichen auf die ÖNORM B 1600, Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen, welche im Jahr 2012 neu erschienen ist und seit 1977 einen Standard für Barrierefreiheit in Österreich festlegt.
Kosten, die nirgendwo belegt sind
Nach der Aussage von Mag. Arch. Stelzhammer, dass Wohnungen „heute um 10% kleiner geplant werden müssten“, weil sie „smart oder sonst was“ sein müssten, richten Sie Ihre erste Frage an Hrn. Arch. DI Löschnig.
Sie stellen aber vorher noch mal sicherheitshalber fest, „dass Wohnungen nun 10 bis 15% teurer werden, wegen Maßnahmen, wie Türverbreiterungen und Rollstuhlwendekreise und ob dies denn gerechtfertigt ist, wenn man bedenkt, dass nur 0,3% der österreichischen Bevölkerung Rollstuhlfahrer sind? Wäre es denn nicht besser, dieses Geld einzusparen und diesen Menschen zur Verfügung zu stellen?“ fragen Sie Hrn. Arch. DI Löschnig.
Da hätte ich gleich eine Gegenfrage: Woher haben Sie denn diese Zahlen? Ich bitte, nein, flehe Sie geradezu an: lassen Sie mich teilhaben an der Studie, die diese erhöhten Kosten wissenschaftlich belegt! Schon seit Jahren versuche ich Zahlen zu eruieren, die ein Standardwohngebäude (oder wie auch immer ein nicht anpassbarer, nicht barrierefreier Wohnbau bezeichnet werden kann) mit einem Anpassbaren Wohngebäude und/oder einem barrierefreien Wohngebäude vergleicht. Also? Haben Sie diesen Vergleich in Zahlen und Fakten?
Nur wer gut auf den Beinen ist, darf die Aussicht genießen
Munter weiter in der Diskussion fragen Sie, ob es sinnvoll ist, „Behindertenwohnungen bis ins 12. Stockwerk zu machen“ und „wenn´s dann brennt und der Lift stecken bleibt, wie kann dann der Behinderte aus dem 12.Stockwerk geborgen werden“?
Was für eine Frage Ich fasse es kaum! Wie kommen Sie denn darauf, dass es 12-geschossige Bauwerke, NEUBAUTEN wohlgemerkt, denn nur diese unterliegen (mit Ausnahmen) den Anforderungen an den anpasssbaren Wohnbau, gibt, die nur über ein einziges Fluchttreppenhaus und nur einen einzigen Aufzug verfügen?
Für Gebäude, wie diese gibt es sogenannte Feuerwehraufzüge (im normalen Gebrauch nicht zu unterscheiden von anderen Aufzügen) die im Brandfall nur von der Feuerwehr unter anderem auch zur Evakuierung von Menschen mit Mobilitätseinschränkung und/oder kranken Menschen dienen.
Was glauben Sie passiert, wenn ein Mensch in einem neuen Wohngebäude im 12.Obergeschoss 40 Grad Fieber hat und im Brandfall nicht mehr die Treppe nach unten flüchten kann, weil er temporär mobilitätseingeschränkt ist? Glauben Sie, die Feuerwehrleute zucken mit den Schultern und sagen: „Blöd, der hätt´ echt besser eine Wohnung im Erdgeschoss nehmen sollen …“ Achja, nur zur Info: Wird ein Brandalarm ausgelöst, fahren die heute zu verwendenden Aufzüge in die sogenannte „Brandfallstellung“ (meist in das Geschoss, wo es nach draußen geht), also keine Angst – man bleibt nicht einfach so „im Lift stecken“.
Kleine Begriffskunde für Nichtbehinderte
Die von Ihnen wild vermischten Termini „barrierefrei“, „behindertengerecht“ oder „Anpassbarer Wohnbau“ bedeuten im Übrigen NICHT das Gleiche! Also noch einmal zum Mitschreiben
Barrierefreiheit wird definiert durch die Begriffsbestimmungen der OIB Richtlinien. Dort heißt es: Barrierefrei im Sinne der OIB-Richtlinie 4 sind bauliche Anlagen, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne Hilfe zugänglich und nutzbar sind.
Für das Wort „Behindertengerecht“ gibt es keine offizielle Definition, da jede Behinderung anders ist. Meine Definition lautet so: Behindertengerecht ist eine Sache, eine bauliche Anlage oder eine Kommunikationsweise, wenn sie für eine bestimmte Person mit Behinderung bedarfsgerecht (produziert) ist.
Hier ein Beispiel: Eine Wohnung, die eine Raumhöhe mit 1,9 m hat, wäre für mich persönlich behindertengerecht, da ich (als Person, die einen Rollstuhl nutzt), bei höherer Raumhöhe die Glühbirnen nicht selbstständig tauschen kann. Eine Wohnung für eine blinde Person könnte hingegen völlig frei von Licht sein. Es gibt also für jede individuelle Behinderung „behinderungsspezifische“ Anforderungen, die im Übrigen für z.B. Menschen mit Sinnesbehinderungen teilweise völlig konträr zu jenen von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen sind!
Die Definition für Anpassbaren Wohnbau finden wir in der ÖNORM B 1600, Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen, Pkt. 6.1, erster Absatz:
Anpassbarer Wohnbau bedeutet, dass zukünftig notwendige Änderungen in möglichst kurzer Zeit und kostengünstig nur mit geringfügigen Änderungen von Installationen, Technik, Dämmung oder Tragfähigkeit vorgenommen werden können.
Im Steiermärkischen Baugesetz ist der Anpassbare Wohnbau für Wohngebäude (Neubauten und Nutzungsänderungen) mit mehr, als drei Wohnungen, vorgeschrieben.
Anpassbar ist (noch) nicht Barrierefrei!
Schlussendlich noch eine Klarstellung. In den meisten Bauvorschriften der österreichischen Bundesländern wird nur der Anpassbare Wohnbau gefordert und nicht ein barrierefreier oder gar behindertengerechter Wohnbau.
Die Forderung nach Anpassbarem Wohnbau ist meiner Meinung genau deshalb nicht übertrieben, da – wie Arch. DI Löschnig während des gesamten Interviews mehrmals erwähnt hat – der Anpassbare Wohnbau die spätere Anpassung vor allem für ältere Menschen ermöglicht. Und die Zahlen der auf uns zukommenden Überalterung strapaziere ich hier nicht. Die sind Fakt!
Sie sehen also Frau Oppolzer, in der von Ihnen moderierten Diskussion hat es einige wirklich schwerwiegende „Schnitzer“ gegeben, die wirklich nicht notwendig gewesen wären. Denn schlussendlich haben Mag. Arch. Stelzhammer und Arch. DI Löschnig nämlich folgendes festgestellt: Sie sind einer Meinung, denn Flexibilität ist das Gebot der Stunde, und diese nutzt der Barrierefreiheit. Fragt sich nur, warum Sie Ihre Gäste mit falschen verwendeten Begriffen und Suggestivfragen für fast 20 Minuten gequält haben …
Ihre Barbara Sima-Ruml, Graz am 22.08.2013