Offener Brief betreffend das Soziale Zentrum St. Josef an die Tiroler Landesregierung

Die Sozialwissenschaftlerin Mag. Petra Flieger verfasste am 31. März 2010 folgenden "Offenen Brief betreffend das Soziale Zentrum St. Josef an die Tiroler Landesregierung und an die Öffentlichkeit"

Ortschild mit Aufdruck Tirol
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Sehr geehrter Damen und Herren der Tiroler Landesregierung, dem aktuellen Sozialbericht des Landes Tirol entnehme ich folgende Zahlen: Im Jahr 2007 hat das Soziale Zentrum St. Josef in Mils € 6.400.000.- und im Jahr 2008 € 7.000.000.- an öffentlichen Geldern vom Land Tirol erhalten. Nun erfahre ich aus den Medien, dass das Land für diese Einrichtung keine Aufsichtspflicht hat, und denke mir, dass Sie gar nicht wissen, um welche Art von Einrichtung es sich handelt.

Daher erlaube ich mir, die Gelegenheit zu ergreifen, diesbezüglich ein paar Aspekte darzustellen und in einen größeren Zusammenhang zu bringen, der sich aus der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen erschließt. Wie Sie wissen, hat Österreich diese Konvention ratifiziert, sie ist seit Herbst 2008 in Kraft.

Das Soziale Zentrum St. Josef ist ein Behindertenheim traditionellster Prägung, es leben hier laut Sozialbericht 144 Menschen mit Behinderung. Bei einem Tag der Offenen Tür im Herbst 2003 konnte ich mir selbst ein konkretes Bild von diesem Heim machen, das damals gerade um € 1,5 Millionen renoviert worden war. Folgende Eindrücke sind mir von meinem Besuch noch immer sehr gut in Erinnerung:

  • Männer und Frauen leben nach Geschlechtern getrennt in sehr großen Gruppen zu ca. 20 Personen. Die 2-, 3- oder sogar 4-Bettzimmer sind entlang von Gängen gereiht, Einzelzimmer sind die Ausnahme. Die Zimmer sind mit bunten Vorhängen behübscht und entbehren jeglicher erwachsener Individualität.
  • In den Zimmern gibt es keine Waschbecken, pro Gruppe gibt es einen Waschraum mit mehreren Waschbecken ohne Möglichkeit des Abschließens sowie einen Baderaum.
  • Von den Schwestern, die damals durch das Haus führten, wurden die behinderten Frauen und Männer im Alter zwischen 20 und 45 Jahren als Buben und Mädchen bezeichnet. Das Verhalten der Klosterschwestern diesen erwachsenen Menschen gegenüber war in unfassbarer Weise infantilisierend und entsexualisierend.
  • Die BewohnerInnen haben im Zimmer keinen Telefonanschluss. Im ganzen Haus stand ihnen damals nur ein Münztelefon zur Verfügung.
  • Das Essen wird von einer Großküche zubereitet.
  • Die Kinder der Kinderabteilung besuchen die hausinterne Sonderschule.
  • Viele BewohnerInnen besuchen die hausinterne Beschäftigungstherapie.
  • Das gesamte Leben der erwachsenen Männer und Frauen muss sich vollkommen den vorgegebenen Regeln in der Gruppe unterordnen.
  • Es war mir bei meinem Besuch sehr gut möglich, mit einigen BewohnerInnen sofort ins Gespräch zu kommen.

Alleine diese von mir ohne Insiderwissen aufgezählten Aspekte reichen, um die institutionelle Kultur des Sozialen Zentrums St. Josef darzustellen und die damit einhergehende institutionelle Gewalt nahezulegen. Ich bezweifle, dass sich in den vergangenen sieben Jahren etwas wirklich Grundsätzliches geändert haben könnte. Heime wie diese spiegeln eine traditionelle und fachlich seit den 1970er Jahren überholte Fürsorgementalität wider.

Sie stehen nicht nur den in Artikel 3 der UN-Konvention beschriebenen Grundprinzipien diametral entgegen, sondern widersprechen vor allem auch den Artikeln 16 (Freiheit vor Ausbeutung, Missbrauch und Gewalt), 19 (selbstbestimmtes Leben und Einbeziehung in die Gemeinschaft), 22 (Achtung der Privatsphäre) 23 (Achtung der Wohnung und der Familie) sowie 27 (Arbeit und Beschäftigung).

Aus internationalen Studien ist lange bekannt, dass die Gesamtkosten von gemeinwesenorientierten Unterstützungsmodellen nicht höher sind als jene für institutionelle Betreuung, das Kostenargument ist also hinfällig. Teuer kommen vor allem halbherzige Parallelsysteme. Daher fordere ich Sie auf, einen Aktionsplan für die Schließung des Sozialen Zentrums St. Josef und die konsequente Deinstitutionalisierung seiner BewohnerInnen innerhalb der nächsten 10 Jahre zu entwickeln.

Im Zuge dessen müssen selbstverständlich auch alle anderen Einrichtungen der Behindertenhilfe in Tirol einer kritischen Überprüfung im Sinne der UN-Konvention unterzogen werden. Für fachliche Impulse stehe ich Ihnen mit meiner Expertise gerne zur Verfügung.

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