Selbständig den Alltag gestalten, mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, Besorgungen machen, arbeiten, Veranstaltungen besuchen – all das ist für viele Menschen mit Behinderungen auch heute noch nicht selbstverständlich. In der UN-Behindertenrechtskonvention ist das Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe klar festgehalten.
Die Lebenshilfe Tirol nimmt das sehr ernst und folgt dem Auftrag des Tiroler Teilhabegesetzes, Klient/innen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Ausgebildete und verantwortungsbewusste Mitarbeiter/innen gehen dazu individuell auf die Fähigkeiten, Möglichkeiten und Lebensumstände jeder Person ein.
Wenn ein Klient zum Beispiel allein einkaufen gehen möchte, wägen Assistent/innen gemeinsam mit ihm ab, unter welchen Bedingungen das für ihn möglich ist. Mit einem sorgfältig und individuell auf ihn abgestimmten Training befähigen sie ihn dann, sein Ziel zu erreichen.
Ein Wunsch wird ernst genommen
Ein Klient an einem Arbeitsstandort der Lebenshilfe Tirol äußerte vor etwa fünf Jahren genau diesen Wunsch. Mit den Assistent/innen übte er monatelang den Weg zum Supermarkt sicher zurückzulegen und insbesondere auch den Zebrastreifen zu benutzen. Der Verlauf des Trainings wurde schriftlich dokumentiert.
Als die Assistent/innen sich davon überzeugt hatten, dass der Klient die Gefahren im Straßenverkehr erkennen und mit ihnen umgehen kann, war der Weg frei: Der Klient konnte seinem Wunsch gemäß allein einkaufen gehen. Eines Tages überquerte er aber die Straße, ohne den Zebrastreifen zu benutzen. Er wurde von einem Auto erfasst und schwer verletzt.
Streitfall Aufsichtspflicht
Die Beifahrerin des Unfalllenkers verklagte die Lebenshilfe Tirol daraufhin auf Schadensersatz. Der Klient hätte ihrer Meinung nach nicht allein Richtung Supermarkt gehen dürfen, sie vermutete eine Verletzung der Aufsichtspflicht.
Selbstbestimmung wiegt mehr
Zwei gute Nachrichten gibt es nun zu vermelden: Der Mann hat sich von seinen Verletzungen inzwischen gut erholt. Und der OGH hat nach einem langen Rechtsstreit nun ein Grundsatzurteil gefällt. Er folgt darin der Argumentation der Lebenshilfe Tirol und stellt fest, dass die Assistenz nicht mit einer Aufsichtspflicht einhergeht.
Volljährige Menschen mit Behinderungen müssen und sollen also nicht grundsätzlich rund um die Uhr „beaufsichtigt“ werden, weil das in klarem Widerspruch zu ihrem Recht auf Selbstbestimmung stehen würde. Nur wenn die Lebenshilfe Tirol ihre „allgemeinen Verkehrssicherungspflichten“ verletzt hätte, so der OGH, müsse die Haftung und daraus folgend eine Verpflichtung zur Leistung von Schadenersatz geprüft werden.
Verkehrssicherungspflicht bedeutet in diesem Zusammenhang, dass im täglichen Umgang Rücksicht auf andere zu nehmen ist und dass Gefahrenquellen abgesichert werden müssen, soweit dies zumutbar ist.
Gerade bei der Prüfung dieser Verkehrssicherungspflichten sei laut OGH die UN-Behindertenrechtskonvention zu berücksichtigen, in der die Achtung der individuellen Autonomie von Menschen mit Behinderungen und das Recht auf selbstbestimmtes Leben verbrieft sind. Die Schadenersatzforderung der Klägerin wurde folglich abgewiesen.
Urteil als wegweisendes Signal
„Dieses Grundsatzurteil ist ein wegweisendes Signal für Menschen mit Behinderungen: Ihre Selbstbestimmung und Teilhabe an der Gesellschaft sind Menschenrechte, die nun auch in der österreichischen Rechtsprechung verankert sind. Dieses Urteil konkretisiert die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention, die von Österreich 2008 ratifiziert wurde“, so Georg Willeit, der Geschäftsführer der Lebenshilfe Tirol.
„Darüber hinaus ist es ein juristischer Meilenstein für alle anderen Organisationen in Österreich, die Menschen mit Behinderungen begleiten: Laut OGH haben sie nicht die Aufgabe, sämtliche Risiken von Dritten auszuschließen, denn das ginge auf Kosten der Selbstbestimmung und der Freiheitsrechte eines volljährigen Menschen mit Behinderungen“, bringt es Philippe Narval, Generalsekretär der Lebenshilfe Österreich, auf den Punkt.
Siehe: OGH-Urteil 1Ob110/23t, ORF-Tirol, DerStandard, Monitoringauschuss
Volker Frey,
06.03.2024, 07:51
Das Urteil ist wichtig, aber nicht spektakulär, sondern erwartbar. Manchmal ist es notwendig klare Dinge auszujudizieren, um auf ein Urteil verweisen zu können.
Gertrude Schop,
04.03.2024, 10:00
Selbstbestimmung wäre aber mit Assistenz vereinbar und würde verhindern, dass der Menschen in Lebensgefahr aufgrund mangelnder Fähigkeit der Gefahreneinschätzung kommt.
SandraS
05.03.2024, 11:01
Hier geht es nicht um nicht vorhandene Assistenz, sondern darum selbst zu bestimmen, ob Assistenz überhaupt gewünscht ist. Sie soll angeboten, jedoch nicht auferlegt werden. Der Straßenverkehr ist grundsätzlich immer und für jeden gefährlich und für Menschen mit Behinderung gefährlicher aufgrund nicht beseitigter Barrieren. Sobald der MmB das verstehen und mit den Konsequenzen leben kann, ist jede aufgedrängte Hilfe mindestens belästigend.