Selten passiert es, dass im Parlament so ungewollte Ehrlichkeiten von einer Politikerin oder einem Politiker gesagt werden. Am 8. Juli 2011 war so eine "Sternstunde". Ein Kommentar.

Die Medien waren voll von Jubelmeldungen. Die Politik war aktiv geworden und hat nach nicht einmal 20 Jahren Pflegevorsorge den „Meilenstein“ einer Verwaltungsvereinfachung gesetzt.
Eine aberwitzige Anzahl von angeblich mehr als 300 mit der Pflegegeldverwaltung befassten Stellen wird auf acht reduziert. Und selbst dies ist nicht der Regierung zu verdanken, sondern dem Druck der Opposition.
Doch auch ein weiteres Thema wurde angegangen. Für die nächsten vier Jahre wurde ein Pflegefonds in der Höhe von gesamt 685 Million Euro „aufgebracht“, den der Bund zu 2/3 finanziert. Die Länder und Gemeinden sollen den Rest beitragen. Das schaut nach recht viel aus – zumindest auf den ersten Blick.
Die „Leistung“ des Bundes
Diese 2/3 des Bundes (457 Millionen Euro) wurden zum größten Teil schon im Vorjahr aufgebracht, als „immerhin 360 Mio. Euro auf dem Rücken der Pflegebedürftigen eingespart“ wurden, erinnert BZÖ-Sozialsprecher Abg. Sigisbert Dolinschek. Dieser Kahlschlag sei – wie der „Sozial“minister Hundstorfer gebetsmühlenartig meint – „sozial ausgewogen“ erfolgt. Übersetzt heißt das: 10.000 Betroffene bekommen heuer einfach mal gar nichts.
Wenn die Berechnung des Bundesanteils am Pflegefonds stimmt, dann wäre die „Leistung des Bundes“ pro Jahr „sagenhafte“ 24,25 Millionen Euro. Klingt lachhaft – ist es auch. Und dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass der Bund „natürlich“ den hunderttausenden pflegebedürftigen Menschen die Inflationsabgeltung vorenthält. In seiner Sprache heißt das: Es bekommt niemand weniger.
Wem nützt der Pflegefonds?
Wohin werden die hunderten Millionen des Pflegefonds eigentlich fließen? Und wem nützt das?
Die Finanzministerin Maria Fekter (ÖVP) hat diesbezüglich am 8. Juli 2011 wörtlich (!) im Parlament gesagt: „Dort wird das gut verwaltet und den Bedürftigen – nein! -, den Institutionen, die diese Dienstleistung anbieten, zur Verfügung gestellt.“
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Nina,
10.06.2013, 12:00
@Gerhard Lichtenauer
Danke für die interessanten Details. Zwanzig Jahre nach der Einführung des Pflegegeldes nehmen es alle als selbstverständlich, weiß eigentlich heute noch jemand, dass die SPÖ vor genau zehn Jahren einen massiven Anschlag auf das Pflegegeld geplant hatte oder woraus das Pflegegeld finanziert wird/wurde? Ich für meine Person wußte es nicht.
Diese informativen Zeilen von Hrn. Erwin Riess zeigen es auf:
http://minderheiten.at/stat/stimme/stimme46a.htm
Unsere lieben Politiker sollten sich hüten, jemals wieder darüber nachzudenken, das Pflegegeld durch Sachleistungen zu ersetzen. Die Pflegekosten könnten dem österreichischen Volk durch den Wegfall der informellen Pflege auf den Kopf fallen.
Die Dienstleister sollten sich endlich an wirklich innovative Modelle heranwagen, schließlich lukrieren sie gewaltig durch den Pflegefonds. Es ist nicht klar zu erkennen, wo das Problem der Umsetzung liegt.
Last but nor least – ob der Maastricht-Vertrag wirklich an der Nicht-Valorisierung schuld ist, stelle ich in Frage. Am EU-Beitritt wurde schon 1986 gearbeitet, lange vor Einführung des Pflegegeldes. Damals konnte (oder wollte) keiner ahnen, welche finanziellen Stolpersteine uns die EU beschert. Das Bundesfinanzrahmengesetz läßt den Rückschluss zu, dass wir uns eine Anpassung des Pflegegeldes in den kommenden Jahren aus dem Kopf schlagen können.
Gerhard Lichtenauer,
09.06.2013, 10:46
@Nina, eine Ergänzung: Die Festschreibung der Valorisierung über 1995 hinaus, wurde den PG-Initiatoren mit dem Argument ausgeschlagen (sinngemäß): „Eine bloße Inflationsabgeltung wäre zu wenig, es muss darüber hinaus viel mehr an Weiterentwicklung geben.“ Ein Ausbau des Pflegegeldsystems (über die Wertsicherung hinaus) wurde von der Politik damals den Betroffenen versprochen. Eine „Offene Pflegestufe“ für Menschen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf stand dabei auch im Raum. Doch dann kam der EU-Beitritt und wegen der Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrags wurde bei der schwächsten Gruppe gespart, wie es schäbiger nicht geht.
Details dieses eklatanten politischen Vertrauensbruchs kennen nur noch die Veteranen des Behinderten-Befreiungskampfes wie z.B. Klaus Voget und Manfred Srb. Ich weiß das von Günter Schleser, der auch einer jener wenigen Kämpfer war, die das Pflegegeld der damals schon menschenrechtsignoranten Politik durch Beharrlichkeit abgerungen haben.
Nina,
09.06.2013, 06:56
@Gerhard Lichtenauer
Vielleicht hat aber auch das Case- u. Caremanagement in vier Ländern nicht ausreichend funktioniert ;-)
Womöglich war aber bereits 2010 die Art.15a-Vereinbarung umgesetzt und es besteht entgegen den Berechnungen der Statistik Austria kein Bedarf, weil Angebote ohnehin flächendeckend vorhanden sind.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Produkte der mobilen Dienstleister keiner will bzw braucht. Wer braucht schon Minutenpflege. Innovation ist für die Anbieter ein Fremdwort. Diese großteils unnötigen Produkte werden aber den Pflegebedürftigen regelrecht aufgedrängt.
Man erinnere sich, wer den Pflegefonds gefordert und hochgejubelt hat.
Von ambulanten Unterstützungsformen für intensiv Pflegebedürftige werden wir auch weiterhin nur träumen dürfen, denn beim Thema Pflege steht der demografische Wandel im Mittelpunkt und Behinderte sind nur eine Randgruppe, zumindest für die Politik und diverse Dienstleister.
Die Aussichten, dass die Inflation das Pflegegeld in naher Zukunft zur Gänze auffressen wird, sind gut, sehr gut sogar. War da nicht am Anfang, als das Pflegegeld eingeführt wurde, die Rede davon, dass es jährlich analog den Pensionen aufgewertet wird? Die nachfolgenden Regierung(en) scheinen davon nichts zu wissen, weil es nur für die Jahre 94/95 schwarz auf weiß geschrieben stand.
P.S. Die Länder verzocken kein Geld. Das war Weisung von weiter oben ;-)
Gerhard Lichtenauer,
08.06.2013, 19:30
Nachtrag: Der Bund hat von den Ländern gelernt, wie’s geht: die Zweckzuschüsse vorenthaltener Unterstützungsleistungen streift er nun genüsslich selber ein. Aber das fällt ohnehin unter „Kleinvieh“, das den Mist nur geringfügig aufwertet.
Der angehäufte Misthaufen des Bundes von mind. 5 Milliarden aus jährlichem Nichtausgleich inflationärer Entwertung des Pflegegeldes, wird jedes Jahr weiterer Nichtvalorisierung um 500-800 Millionen Euro aufgebessert (nicht nur ca 2-3 Prozent Inflation, sondern jedes Jahr ca. 25 Prozent Wertverlust!). Das wissen wir alle, wenn auch die Dimensionen, um die es bereits geht, vielleicht wenigen bewusst sind.
Der Misthaufen der Länder, der überhaupt nie thematisier wird, ist inzwischen sicher um einiges höher angewachsen, der stinkt schon gewaltig zum Himmel: die unterschlagene Bedarfsdeckung des Pflegebedarfs durch „Sachleistungen“ (seitens der Länder und der KrankenKassen) für intensiv Pflegebedürftige und sozial Bedürftige im ambulanten Bereich.
Gerhard Lichtenauer,
08.06.2013, 17:50
@Nina, danke für diesen beachtenswerten Beleg des schändlichen Treibens einzelner Bundesländer. Ein Trost bleibt immerhin, diesmal bekamen die Länder vom Bund nicht den Freibrief, unterschlagene Fördermittel für sich selber einstreifen und verzocken zu dürfen, wie das z.B. bei der 10-jährigen Unterschlagung der Mobilitätsförderungen (Bund-Länder-Vereinbarung 2003) und der 20-jährigen Umsetzungsverschleppung der Vereinbarung über Maßnahmen des Bundes und der Länder für pflegebedürftige Personen (BGBl. Nr.866 vom 21.12.1993) gemacht wurde.
So nebenbei: Letzteres hätte laut dieser Art.15a Vereinbarung von 1993 (B-VG) übrigens bis 2010 flächendeckend abgeschlossen sein müssen – siehe BGBl. Nr.866, Anlage B, Punkt 9 http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1993_866_0/1993_866_0.pdf
Mit dem sog. „Pflegefonds“ bekommens die Länder nun ein zweites Mal finanziert, was sie den Betroffenen bisher durch unterlassene Hilfeleistungen eiskalt vorenthalten haben.
Dass die Gewohnheits-Zechpröller mit dem Ausbau innovativer Modelle an ambulanten Unterstützungsformen solche Probleme haben, ist dadurch erklärbar, dass sie bis dato mit der Existenzvernichtung eben derselben beschäftigt waren.
Aber was soll’s, menschenrechtskonforme Innovationen im Behindertehilfe- und im Pflegebereich werden in Österreich ohnehin durch die grassierenden SachleistungsZwangsvorstellungen im Keim erstickt.
Nina,
08.06.2013, 10:52
Mit freundlichen Grüßen vom Sozialministerium
http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/AB/AB_14121/imfname_308137.pdf
Dozent,
20.07.2011, 03:42
Das Video ist sehenswert – Der neueste Trend in Wien: Man baut seit neuesten Alten- und Pflegeheime, wo jede Zimmer mit Intensiv-Betten ausgestattet werden. damit die alten Menschen nicht in eine Pflegestation umsiedeln müssen, wenn es ihnen schlechter geht – begründet wird dies: „Man hat aus Lainz gelernt“! Klingt doch gut oder? Das ist Inklusion pur in Wien! Und so werden die Mittel des Pflegefonds „treffsicher“ angewendet …
Sebastian Ruppe,
19.07.2011, 14:25
super Film! Danke Peter Wehrli
Stoifl Birgit,
15.07.2011, 14:40
Der Film trifft´s! Der Staat freut sich zwar, dass ich mich selbständig gemacht habe, soll ja auch die Wirtschaft antreiben, aber(in der Betreuung von Kindern mit Behinderung), ist mir „absolut nicht zu trauen“, auch wenn ich all meine Dokumentationen offen lege. Eine „soziale Organisation “ ist nicht immer sozial…Papier ist geduldig! Das alt Bekannte ist einfach das „Beste“, nach dem scheinbar stupiden Motto: „das war schon immer so“!
Peter Wehrli,
15.07.2011, 10:39
Sehen Sie dazu den Kurzfilm „Krüppelwirtschaft“ auf SL-TV: http://youtu.be/tRMqNV3T-IE
Wolfgang Mizelli,
14.07.2011, 14:35
Nix neues! Den Krüppln kann man doch keine Marie in die Hand geben.
Seit Jahren aber organisieren sich die Krüppln ihre Assistenz erfolgreich selber. Nur nicht in Österreich! Eigentlich sollten wir unsere PolitikerInnen/ VolksvertreterInnen ganz schnell entlassen und das Heft selbst in die Hand nehmen.
Antihundstorfer – Antimizi,
13.07.2011, 14:05
Super Artikel- Herr Chefredakteur – Der Satz von der Finanzministerin Frau „Schottermizi“ ist ja wirklich zum „Schrein“: „Dort wird das gut verwaltet und den Bedürftigen – nein! -, den Institutionen, die diese Dienstleistung anbieten, zur Verfügung gestellt.“
Und wie das stimmt: Volkshilfe- SP-Nahe, Hilfswerk – VP-Nahe, und dann diverse Klein- und europäische Sozialdienste, die auch „Helfen“ wollen!
Wir – die Betroffenen- alte Menschen und Menschen mit Behinderungen sind noch immer ein gutes „Geschäft“ – wo jedoch bei immer mehr Betroffenen der Spruch zutrifft: „Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel“ – und das in einem der reichsten Staaten Europas und des Erdballes! Schande über diese Sozialpolitik!