Pflegegeld pflegt nicht, Lohnarbeit lohnt nicht

Ein Leserbrief im Standard (25. 1. 96) von Bernd Marin / Christiane Bahr Kai Leichsenring / Carlotte Strümpel, Europäisches Zentrum, Wien

Für die Eröffnung überfälliger Debatten zur Wohlfahrtsreform ist Brigitte Ederer zu danken. Doch so gut ihr Vorschlag zum Überdenken einkommens- und leistungsunabhängiger Gratis-Mitversicherungen für Familienmitglieder, so problematisch die Idee, die Auszahlung des Pflegegelds an einen Nachweis professioneller Dienste zu binden. Das könnte 1. das Pflegegeldsystem untergraben, 2. Pflege teurer statt preiswerter machen und 3. die Familien (Frauen) ungewollt weiter belasten.

Das Pflegegeld sollte Pflegebedürftigen die Wahl zwischen professionellen Diensten und der Entschädigung persönlicher HelferInnen (Angehörige, Freunde, Bekannte) bzw. einer Kombination aus externer und informeller Hilfe lassen; und pflegebedingte Mehrkosten (Diäten, Hilfsmittel, höhere Heizkosten) verringern. Wahlfreiheit vermindert Abhängigkeiten und erhöht die Würde.

Bei „Bezahlung“ Angehöriger fließt das Pflegegeld meist direkt in das Haushaltseinkommen. Das als „Mißbrauch“ mißzuverstehen ist wie vom „Mißbrauch“ von Geburtenbeihilfen, Wochen- und Karenzurlaubsgeld, Kindergeld, Krankengeld usw. zu reden. Auch Pflegegeld ist Geld und kein Dienst oder Gutschein für Sachleistungen und hat daher „kein Mascherl“.

Wollte man nämlich bestimmte Verwendungsnachweise für Pflegegeld, hätte man Dienste und nicht Geld anbieten sollen. Familiäre Pflege ist eben keine „Schwarzarbeit“ und sie in Lohnarbeit umzuwandeln (die Schwiegertochter als Angestellte ?) machte Betreuung nur vielfach teurer aber nicht notwendig besser.

Zwar ist fachkundige Hilfe in allen Pflegestufen als Ergänzung wünschbar, in höheren wohl unabdingbar. Doch Pflege voll zu professionalisieren stößt an humane und finanzielle Grenzen: selbst in Schweden hat man inzwischen die Unverzichtbarkeit informeller Betreuung erkannt und Einschränkungen von Diensten bzw. Geldersatz für sie vorgesehen.

Immerhin könnte man pflegende Angehörige anmelden lassen, steuerfrei stellen, sozial- und pensionsrechtlich absichern – und mit einer Art „Pflegetagebuch“ Mißbrauchs-Legenden („Pflegegeld für das Motorrad des Enkerls“) gegensteuern.

Pflegegeld scheint grundsätzlich der richtige Mittelweg, freilich noch weit entfernt vom Ziel ausreichender Pflege. Denn das Recht auf Pflegegeld ist noch kein Recht auf Pflege, weil Geld allein nicht pflegt. Entscheidend ist, ob die Länder flächendeckende Dienste anbieten bzw. auch Private zulassen; und ob informelle Betreuung durch „Hilfe für Helfer“ (z. B. Heimhilfen) belebt wird. Pflegegeld könnte der wirtschaftlichste und humanste Beitrag gegen „Pflegenotstand“ sein.

Geld allein pflegt nicht: und um das derzeitige Pflegegeld ist andere als größtenteils informelle Pflege (inkl. unvermeidlicher Schwarzarbeit) gar nicht zu kriegen. Während die höchsten Pflegegeldsätze (21.074 öS) für rund 5.000 Personen großteils von Heimen kassiert werden dürften (wo 180 Stunden Betreuung monatlich kaum kontrollierbar sind), reichen Stundensätze von 45 bis 61 Schilling (für 60 Betreuungsstunden höchstens 3.688 öS) für 2/3 aller Pflegefälle in vielen Bundesländern nicht einmal aus, um den Selbstbehalt für die Inanspruchnahme hochsubventionierter Heimhilfe oder Hauskrankenpflege zu bezahlen. Pflegegeld ist eben nur ein kleiner „Beitrag zur Abdeckung pflegebedingter Mehrkosten“.

Entscheidend ist: Will man den ein Jahrzehnt verhandelten historischen Kompromiß Pflegegeld, eine Kombination von Geld- und Sachleistungen, überhaupt oder nicht ? Wie kann man Pflegegeldbezug an den Zukauf sozialer Dienste binden, die vielfach noch gar nicht (ausreichend) existieren ? Oder sind sie ihren (seit 1993 z. T. vervielfachten) Preis nicht wert, wenn sie nicht nachgefragt werden ? Oder wollen sie familiär-informell bleiben ? Statt über Pflegegeld müßte dann diskutiert werden, welche Investitionen nötig sind, um sozialmedizinische Dienste (Beratungsstellen, Tages-, Kurzzeitpflege usw.) so auszubauen, daß pflegende Angehörige und Spitäler entlastet werden.

Erhofft man vorab Beschäftigungs- oder Einsparungseffekte ? Und welche Qualität der Dienste in Gesundheits- und Sozialsprengeln? Wer einen Kollaps des Gesundheitssystems verhindern will, muß zuerst die Kernzonen der Medizinkostenexplosion reformieren, nicht die „kleine Schwester“ Pflegegeld, wo für relativ wenig Aufwand – insgesamt weniger als für zwei Prozent zusätzlicher Arbeitslosigkeit! – versucht wird, die „Pflegelücke“ aus Heimhilfen und (Tages)Heimen durch Anreiz für familiäre Hilfe zu schließen.

Pflegegeld befreit Pflege vom Stigma der Armenfürsorge sowie aus dem Würgegriff (teilgestützter) Bietermärkte und bürokratischer Kontrolle, wo „Pflegefälle“ Bittsteller, Almosenempfänger, und nicht Klienten mit Rechten und Alternativen sind – und auf beschämende Gnade allzu oft verzichten. Den Fort-Schritt 1993 vom „Hilflosenzuschuß“ zum Bürgerrecht, abhängig vom Pflegebedarf, nicht vom Einkommen, sollten wir nicht rückgängig machen.

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