Pistorius auf freiem Fuß oder warum auch Blinde sich wiedersehen

Ein Zeitungsständer mit verschiedenen Tageszeitungen. Bild, Frankfurter Allgemein, Neue Zürcher Zeitung und andere.

Es ist ein paar Tage her, dass ich auf diesen Tweet aufmerksam wurde:

Ich musste, ehrlich gesagt, einen Moment darüber nachdenken, was das Problem an der Formulierung sein soll. Dann fiel der Groschen: Kann jemand, der unterschenkelamputiert ist und mit Prothesen läuft, auf freien Fuß kommen, wenn er in Untersuchungshaft sitzt?

Ja, warum denn nicht? Es ist eine gängige Redewendung, die ursprünglich daher kommt, dass jemandem die Fesseln vom Fuß entfernt werden. In den meisten Staaten werden Gefangene heute nicht mehr dauerhaft in Fußfesseln gelegt, aber dennoch wird die Redewendung weiter verwendet. Genau genommen ist sie also bei jedem Gefangenen falsch, der nicht in Fußfesseln gehalten wurde.

Einige meinen, Pistorius habe keine Füße, deshalb könne er auch nicht auf freien Fuß kommen. Ich finde das für eine sehr engstirnige Begründung. Zum einen sind Pistorius‘ Prothesen seine Füße. Zum anderen nutzen auch behinderte Menschen selbst solche und andere Redewendungen. Man muss das Leben ja nicht komplizierter machen als es ist.

Ich „gehe“ also zum Arzt, auch wenn ich eigentlich dort hin rolle. Ich „gehe“ auch spazieren. Blinde Menschen wünschen sich gegenseitig „Auf Wiedersehen“ und „schauen sich das mal an“. Das ist ganz normal.

Die oben genannten Beispiele haben alle gemeinsam, dass sie neutrale Formulierungen sind. Es schwingt keine Herabwürdigung oder Bewertung mit. Anders sieht es aus bei Formulierungen, die eine bestimmte negative Vorstellung erzeugen wie z.B. „an den Rollstuhl gefesselt“. Offensichtlich haben weniger Journalisten Skrupel so eine Formulierung zu benutzen, obwohl sie keinesfalls mehr wertneutral ist sondern eine negative Einstellung gegenüber dem Hilfsmittel Rollstuhl impliziert.

Ich finde, man darf Pistorius „auf freien Fuß“ kommen lassen. Das ist in jedem Fall besser als ihn „an seiner Behinderung leiden“ zu lassen – noch so eine beliebte Formulierung, die keinesfalls neutral ist.

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