Im Koalitionspakt der Wiener ÖVP mit der SPÖ aus dem Jahr 1996 mit dem Titel "Wiens Weg ins 21. Jahrhundert" heißt es:
„Dem Abbau von Barrieren kommt erhöhte Bedeutung zu“ und „Ämter und Behörden, Straßenraum (Gehsteigabsenkungen), Schulen, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, Wohnungen und Betriebe sind für Behinderte zugänglich zu machen“.
Soweit die Theorie – und wie schaut die Praxis aus? Mehr als drei Jahre danach muß festgehalten werden, daß von einer erfolgten Umsetzung dieses Kapitels im Regierungsprogramm keine Rede sein kann: neue Geschäfte und Restaurants mit Stufen, fehlende oder unbrauchbare Behindertentoiletten, Kinocenter ohne Induktionsschleifen, zu hoch angebrachte Aufzugstasten ohne erhabene Schrift, fehlende akustische Ampeln, unerreichbare Bankomaten und Fahrscheinautomaten, Gehsteige, die einmal abgesenkt sind und einmal nicht, ein neues Amtsgebäude des fürs Bauen zuständigen Stadtrates, das nicht zugänglich ist, fehlende Behindertentoiletten – die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.
Die Realisierung des Koalitionspaktes muß in den existierenden Gesetzen ihren Niederschlag finden: in der Bauordnung, dem Veranstaltungsstättengesetz und in weiteren einschlägigen Gesetzen und Verordnungen. Doch nichts davon ist bisher geschehen: der § 106 a der Bauordnung, der die wesentlichsten Bestimmungen über barrierefreies Bauen enthält, strahlt den Geist und den Diskussionsstand der 80er Jahre aus und ist somit rettungslos veraltet.
Der später hinzugefügte § 119 a der Bauordnung stellt Gewerbebetrieben überhaupt einen Persilschein für die bauliche Aussonderung behinderter Menschen aus. Und die in der derzeit auf Eis liegenden Techniknovelle vorgesehenen minimalen Änderungen würden wieder nichts an der Substanz verändern. Schon längst haben andere Bundesländer fortschrittlichere Bestimmungen geschaffen. Wenn in Wien nicht bald die dringend notwendigen Reformen beschlossen werden läuft Wien Gefahr, zum Schlußlicht Österreichs zu werden.
Daß es auch anders geht, zeigen die jüngsten Beispiele aus dem 8. Bezirk, wo Gehsteige systematisch und flächendeckend abgesenkt wurden und aus der Mariahilferstraße, wo die meisten der neuen Geschäftslokale stufenlos ausgeführt wurden.
Die Inaktivität der Rathauskoalition verstößt aber auch gegen den Artikel 7 der Verfassung: Denn dieser verpflichtet bekanntlich die Länder und Gemeinden, unsere Gleichbehandlung in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten.
Will die Koalition eine vor der Türe stehende Flut an Klagen samt ihren negativen Auswirkungen in der Öffentlichkeit vermeiden, dann ist auch aus diesem Grund rasches Handeln geboten.
Aber den Hauptgrund liefern wohl die immer näher rückenden Wahlen in Wien, bei denen das Handeln der Parteien auf dem Prüfstand stehen wird. Jetzt ist wohl die letzte Chance, die dringend notwendigen Reformen zu beschließen. Damit der Weg ins nächste Jahrhundert ein barrierefreier wird.