Prozeß Gross: Grobe Schwächen

Profil: Der New Yorker Psychiater und Gerichtssachverständige Peter Stastny über den Beginn des Gross-Prozesses.

Heinrich Gross
APA

„Peter Stastny, 47, ist Associate Professor of Psychiatry am „Albert Einstein College of Medicine“ in New York und derzeit Gastprofessor an der Universität Wien. In New York ist er sowohl an Distrikts- als auch an Bundesgerichten Sachverständiger für Psychiatrie und Neurologie“, stellt Profil seinen Interviewpartner vor.

Profil: Wie würde man in den USA die Verhandlungsfähigkeit eines Angeklagten wie Heinrich Gross untersuchen?
Stastny: Hätte man bei einem Mordverdächtigen den Eindruck der Verhandlungsunfähigkeit, würde man einen Spitalsaufenthalt anordnen und interdisziplinär begutachten, ob er verhandlungsfähig ist.
Profil: Sie waren bei der Eröffnung des Gross-Prozesses. Was ist Ihr Eindruck?
Stastny: Unerklärlich sind mir die Umstände, unter denen das psychiatrische Gutachten gemacht wurde und – vor allem – warum es vom Gericht als schlüssig akzeptiert wurde. Der Sachverständige sagte mir, dass er erst in der Woche vor dem Prozess mit einem neuen Gutachten befasst wurde und dieses dann am Tag vor Verhandlungsbeginn abgegeben hat. Gericht und Staatsanwalt hatten daher kaum Gelegenheit, es zu studieren. Wegen der groben Schwächen dieses Gutachtens wären von vornherein weitere notwendig gewesen.
Profil: Was bezeichnen Sie als grobe Schwächen?
Stastny: Aus den Befunden – sowohl Computertomografie (CT) wie Tests wie Beobachtung – werden Schlüsse gezogen, die daraus nicht ableitbar sind. So wird die Diagnose der Demenz und einer ausgeprägten Depression auch auf die CTs gestützt. Eine CT zeigt jedoch keine direkte Korrelation mit dem Grad einer Demenz oder gar einer Depression. Außer, es sind ganz bestimmte Gehirnareale beeinträchtigt.
Profil: Und die psychologischen Testverfahren?
Stastny: Der „Mini-Mental-Status-Test“ ist ein oberflächlicher Screening-Test, der nichts über die spezifischen Fähigkeiten eines Menschen aussagt. Der zweite von Dr. Haller angewandte Test der zerebralen Insuffizienz ist überhaupt nicht mehr gängig. Das Konzept der zerebralen Insuffizienz wird heute weder klinisch noch wissenschaftlich verwendet.
Profil: Wie würden Sie einem Angeklagten wie Heinrich Gross gegenübertreten?
Stastny: In erster Linie würde ich versuchen, die Frage des Simulierens zu klären. Es spricht viel dafür, dass Gross sich unter Vortäuschung einer Demenz oder Depression vor der Verantwortung drücken will. Falls er wirklich schwer depressiv ist, hätte man das medikamentös oder durch Therapie behandeln müssen. Davon war jedoch keine Rede.
Profil: Zwangsbehandlung?
Stastny: Wer sagt, dass Herr Gross sich nicht behandeln ließe? Sein Anwalt betont doch, wie sehr sein Mandant den Prozess möchte, um die Vorwürfe zu klären.
Profil: Welchen Eindruck hatten Sie von Richtern und Staatsanwalt?
Stastny: Sie haben in vielen Punkten versagt. Der Gutachter verwendet Atteste des Internisten und des Neurologen, bei denen der Angeklagte in Behandlung ist. Warum wurden sie nicht als Zeugen gehört? Richter und Staatsanwalt verzichteten trotz des unschlüssigen Gutachtens auf die Befragung des Sachverständigen. Keiner berücksichtigte die Schwerhörigkeit des alten Mannes. In Amerika muss sich das Gericht an die Behinderungen eines Angeklagten anpassen, man nennt das „reasonable accomodation“. Dass der Gutachter zwanzig Minuten vorträgt und der Richter den Angeklagten erst danach fragt, ob er das gehört und verstanden habe, wäre in den USA unvorstellbar. Dass seine Verneinung dieser Frage für bare Münze genommen wurde, ist nahezu lächerlich.

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