Realität formt Sprache – Sprache formt Realität

Gendern ist wichtig!

Eine Tabelle mit zwei Spalten und 4 Zeilen; In allen Zellen steht das Wort Leserin, aber immer in unterschiedlicher Schreibweise; Die linke Spalte ist mit einem Buch als Symbol für geschriebene Sprache überschrieben; die rechte mit einem Lautsprecher für gesprochene Sprache; Zeile 1 - Orange - LeserIn ➡ Leser in; Zeile 2 - Hellrot - Leser*in ➡ Lesersternchenin; Zeile 3 - Dunkelrot - Leser:in ➡ Leser gefolgt von einer Sprechblase mit drei Punkten, drei Fragezeichen und nochmal drei Punkten, danach ein Zeilenumbruch und dann das in; Zeile 4 - Olivgrün - Leser_in ➡ Leser_in; Hintergrundfarbe der Grafik ist ein freundliches Beige;
Alexander Vogler

Gendern ist mehr, als Frauen den ihnen zustehenden Platz in der Sprache einzuräumen!

Gendern ist auch, marginalisierte Gruppen nicht gegeneinander aufzurechnen!

Menschen von Frau bis Mann

Ich habe keine verlässlichen Zahlen gefunden, die Auskunft darüber geben, wie viele Menschen in unserer Mitte leben, die weder Mann noch Frau sind, aber es dürften ohnehin deutlich mehr sein, als jede Statistik aussagen könnte.

Auf jeden Fall sind es zu viele, als dass wir sie in unserer täglichen Kommunikation einfach weiter übergehen dürften.

Ob ich diskriminiert werde, bestimme ich selbst

Wir Frauen und Männer haben uns in den letzten Jahrzehnten mit dem Binnen-I zumindest halbwegs und formal und irgendwie daran gewöhnt, das jeweils andere Geschlecht mitzumeinen. Leute, die aber nicht – oder nicht ganz – Frau oder Mann sind, fühlen sich durch unsere gegenseitige Anerkennung noch lange nicht repräsentiert.

Der Stern des Anstoßes

Aktuell befindet sich das Gender-Sternchen auf dem Vormarsch, um diese Diskriminierung über den Umweg der Sprache zurückzudrängen. Der Ansatz ist gut! Leider wurde dabei aber nicht bedacht, dass das Gender-Sternchen seinerseits wiederum diskriminiert.

Viele Funktionen

Das verwendete Sternchen „*“ erfüllt in der Schriftsprache viele weitere Funktionen. Genannt seien hier nur die in der Multiplikation oder beim Chatten. Zwar ist das für die geneigte Leser_in aus dem Kontext meist leicht zu erkennen, aber für viele Menschen liegt zwischen ihnen und dem geschriebenen Text kein Bildschirm oder Blatt Papier, sondern ein Lautsprecher.

Das ge-hört sich nicht

Für blinde Menschen ist es heutzutage sowohl am Computer wie auch am Handy selbstverständlich, sich Texte von einer elektronischen Sprachausgabe – einer TTS (Text To Speech engine) – vorlesen zu lassen. 

Damit lassen sich Arbeitsgeschwindigkeiten erreichen, die denen von sehenden Menschen nahekommen. Allerdings fällt all das, was sehende Menschen an Interpretation leisten, dabei unter den Tisch bzw. findet erst nach dem Hören statt. Das führt zu Effekten, wie in der Grafik angedeutet.

Technisch lässt sich dieses Problem leider nicht lösen, ich erspare euch in diesem Artikel allerdings die Ausführungen, warum das so ist. Es bleibt auf jeden Fall festzuhalten, dass das Gender-Sternchen blinde Menschen diskriminiert.

Wo bitte geht’s hier zum Ausgang?

Der Doppelpunkt

In manchen Artikeln wird der Doppelpunkt zur Lösung des Problems propagiert. Dieser erzeugt allerdings bei den meisten TTS eine so lange Pause im gesprochenen Text, dass Mensch sich bereits im folgenden Satz oder Absatz wähnt.

Eben genau so, wie wenn der Doppelpunkt in seiner ursprünglichen Funktion eingesetzt wird, nämlich als Beginn einer Aufzählung oder von wörtlicher Rede.

Der Unterstrich

Der Unterstrich ist als Gender-Gap ja auch schon recht etabliert. Von der Mehrheit der Nichtmänner und Nichtfrauen wird er jedenfalls als dem Gender-Sternchen gleichwertig angesehen. Er hat gleichzeitig den Vorteil, dass viele aktuelle Sprachausgaben ihn nicht (aus)sprechen. Mithin also genau das tun, was erreicht werden soll, nämlich Platz lassen zwischen Frau und Mann.

Vor allem bei mobilen Sprachausgaben wird das Zeichen „_“ zwar oft noch als Wort „Unterstrich“ ausgesprochen, dies stellt aber abseits des Genderns bereits einen Fehler dar und kann praktisch ohne negative Nebenwirkungen korrigiert werden.

Kampf dem Sternchen, nicht dem Gendern!

Meine dringende Bitte an alle, die guten Willens sind: Nennt ihn Gender-Strich, Unterstrich oder Gender-Gap, aber verwendet ihn.

Danksagung

Mein Dank gilt vielen geduldigen nichtbinären Menschen auf Twitter. Im Besonderen Illi Anna Heger (Twitter: @AnnaHegerC), von xier habe ich die entscheidende Idee, die visuelle und die akustische Pause als gleichwertig gegenüberzustellen. Schaut euch die Arbeiten zu „Pronomen ohne Geschlecht“ mal an; es lohnt sich!

Danke an Alexander Vogler (Twitter: @Chiliphunk) für die sensible und treffende Umsetzung des akustischen Problems in die anschauliche Grafik.

Siehe auch: Diskriminiert das Gender-Sternchen blinde Menschen?

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11 Kommentare

  • Kommt Ihnen nicht in den Sinn, dass Frauen wieder einmal diffamiert werden und sozusagen als Wurmfortsatz des generischen Maskulinum gehandelt werden? Frauen bzw. das weibliche Geschlecht mit „in“, Plural „innen“ zu titulieren ist degradierend für die Frau und gefühlt auch unter Wert, d.h.als minderwertig erkannt. Wieder einmal oder die Fortsetzung von dem wie es schon immer war, nur halt etwas in anderer Form. Dahinter steckt ganz schlicht weg, ein paar Zeichen in der Schriftform einzusparen. Kundinnen und Kunden = Kurzform Kund:innen. Das ist der ganz realistische Grund. Und ob Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen sich Wert geschätzt sehen mit dem : (Doppelpunkt) usw. bleibt dahingestellt. Ich glaube, ehe NICHT – verständlich.

  • Hi, nur ein Kommentar zur Nutzung des Wortes ‚gendern‘: auch männlich gegenderte Sprache ist gegendert, halt eben männlich. Wenn du gendern so benutzt, wie du es tust, dann diskriminiert du wieder alle, die nicht männlich sind, denn du setzt männlich mit neutral gleich und alle anderen sind dann die, die mensch extra ‚gendern‘ muss.
    Aber sonst find ich den Artikel gelungen, danke.

  • Ich würde gerne doch verstehen, warum TTS programme das nicht lernen können.
    Viele Menschen, die das Gendern gerne machen und dennoch den Textfluss nicht komplett unterbrechen wollen – und die Eloquenz und Eleganz unser Sprache gehört eben auch zu unser Kultur – können sich mit dem : am besten anfreunden. Vielleicht weil er das Wort visuell am ehesten zusammenhält, schätze ich.

    Wenn AI zukünftig über unsere smarten Leben bestimmen soll, dann muss es doch möglich sein, einer Software den Unterschied zwischen einem : mit Lücke und einem :ohne beizubringen?!
    was eigentlich eh für alle Zeichen gilt, oder wie werden Konstrukte wie SCH oder ëum ausgesprochen?

    Bin gespannt

  • Stumpfsinn, du meine Wonne!

  • Ein interessanter und nebenbei auch noch gut geschriebener Text. Wird es wohl irgendwann eine einheitliche Schreibweise geben? Wäre gut.

  • Super Beitrag, ich finde es extrem wichtig, dass dieses Thema aufgegriffen und auch unter uns TTS-Nutzer*innen diskutiert wird! Wobei es sicher schwer wird, eine Lösung zu finden, die für alle akzeptabel bzw. passend ist. Ich selbst finde das Sternchen beispielsweise wesentlich angenehmer als den Unterstrich, weil beide TTS-Systeme, die ich verwende, Leser Stern innen schneller und kompakter aussprechen als Leser Unterstrich innen. Der Doppelpunkt ist spannend, diesen finde ich mit dem einem TTS sehr angenehm und ohne lange Pause ausgesprochen, beim anderen ist die Pause, die auftritt, wirklich recht lang und leicht irritierend. Aber durch die große Anzahl an Sprachausgaben, die uns mittlerweile zur Verfügung stehen, gibt es hier sicher sehr viele Erfahrungswerte.

  • Hallo,
    vielen Dank für diesen Text aus deiner Perspektive, Jürgen, ich nehme in der Diskussion oft Personen wahr, die selbst kein TTS benutzen (ich selbst auch nicht) und dann wilde Annahmen über diese Programme treffen…
    Gibt es die Möglichkeit, sich die Unterschiede in der Wiedergabe der unterschiedlichen Versionen anzuhören?
    Beste Grüße und vielen Dank
    Konsti