Kommentar von Christian Ortner, Format: Nr. 30, 24.07.2000 Auszug:
„… Daß der Sozialstaat nicht merkbar zurückzuführen ist, ohne daß dabei unzumutbare Härten entstehen würden, ist ein Vorurteil, das durch seine derzeit ständige Wiederholung nicht an Wahrheitsgehalt gewinnt. Ein klassisches, von der Regierung erstaunlicherweise noch nicht thematisiertes Beispiel dafür stellt etwa das erst vor wenigen Jahren eingeführte Pflegegeld dar. Die Idee dahinter ist fein: Wer zum Pflegefall wird, bekommt monatlich bis über 20.000 Schilling vom Staat für die Inanspruchnahme häuslicher Hilfe ersetzt; ebenso, wer einen Angehörigen in einer derart mißlichen Situation pflegt. Das ist sozial und vernünftig, kostet allerdings mittlerweile astronomische zwanzig Milliarden Schilling pro Jahr, über die kaum noch viel geredet wird: Wir haben´s ja. Diese enormen Kosten entstehen nicht zuletzt deshalb, weil das Pflegegeld bis jetzt unabhängig vom Vermögen und vom Einkommen des Pfleglings und seiner Angehörigen ausgezahlt wird; ein Unfug, der jedes Jahr Milliarden kostet. Was aber wäre unsozial, würde künftig ein gutverdienender Yuppie selbst für die Pflege seiner alten Mutter aufkommen müssen, was wäre unsozial, würde gar bei alten Menschen mit hohen Ersparnissen zuerst deren Vermögen für Pflegedienst herangezogen, bevor allenfalls der Staat einspringt? Derartige Auswünsche endlich zu beschneiden heißt nicht den Sozialstaat abreißen, sondern bloß dem einzelnen zuzumuten, was zumutbar ist: einen Teil der Lebensrisiken selbst zu tragen, wenn er dazu imstande ist. Wer das nicht in Kauf nehmen will, sorgt letztlich nur dafür, daß das Leben in diesem Staat für alle zum (finanziellen) Risiko wird.“
Pflegegeld – Polemik sollte treffsicher sein
Polemik ist ein gutes Stilmittel für Kommentare. Besonders dann, wenn sie treffsicher eingesetzt wird. Leider ist diese Polemik bezüglich des Pflegegeldes im obengenannten Kommentar alles andere als punktgenau. Zunächst zu den harten Fakten, wie der Journalist so gerne sagt: Das Budget des Pflegegeldes liegt unter 18 Milliarden Schilling im Jahr und nicht, wie im Kommentar kolportiert, 20 Milliarden.
Im besagten Artikel wird weiters suggeriert, daß „Pflegefälle“ bis zu 20.000 Schilling vom Staat erhalten, Abgesehen davon, daß es keine „Pflegefälle“ gibt, bekommen behinderte Menschen, je nach behinderungsbedingten Mehraufwänden, Pflegegeld, das in sieben Stufen gegliedert ist. 75 Prozent der behinderten Menschen, ob jung oder alt. erhalten die Pflegestufe 1 (2.000,- S), 2 (3.688,-S) oder 3 (5.690,-S). Nur ein Bruchteil (1,3 Prozent) bekommt die Pflegestufe 7 (21.074,-S). Es ist richtig, daß man mit den nackten Zahlen weniger gut polemisieren kann, trotzdem muß man die Kirche im Dorf lassen.
Seit Einführung des Pflegegeldes sind zahlreiche Studien und Evaluierungen über den Einsatz des Pflegegeldes gemacht worden. In keiner dieser Untersuchungen ist die Treffsicherheit als Problem bezeichnet worden. Im Gegenteil! Keine andere Transferleistung wurde als so effizient bezeichnet, wie das Pflegegeld. Durch die Einführung des Pflegegeldes gibt der Staat keine astronomisch hohen Beträge aus, wie der Kommentator ausführt, sondern spart sich diese ein. Jeder Ökonom würde dieses bestätigen.
Im übrigen ist das Pflegegeld ein Nachteilsausgleich für behinderungsbedingte Mehraufwände und nicht eine Geldleistung, die der Armutsbekämpfung dient. So formuliert es der Gesetzgeber im „§ 1 Zweck des Pflegegeldes“ des Bundespflegegeldgesetzes. Das Pflegegeld soll „die Möglichkeit verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen“, so der Gesetzestext.
Eine soziale Staffelung des Pflegegeldes widerspricht außerdem der österreichischen Verfassung, Im Art 7 steht: „Niemand darf auf Grund seiner Behinderung benachteiligt werden“. Mit welchem Argument soll ein behinderter Mensch, der einer beruflichen Tätigkeit nachgeht, weniger Einkommen haben, wie sein nichtbehinderter Kollege, der keine behinderungsbedingten Mehraufwendungen hat. Die Frage der „Treffsicherheit“ kann sich daher nur nach dem behinderungsbedingten Mehraufwand orientieren, nicht aber am Einkommen des Einzelnen.
Auch Kommentare sollten treffsicher geschrieben werden, eine Orientierung an der Faktenlage wäre hier nicht schlecht.