Warum London anders als Wien ist, wie sich die Frage nach Normalität neu stellt, und was eine sportliche Leistung sein kann. - Notizen von einem Kurzbesuch bei den Paralympics in London. (erschienen in: "Die Furche" Nr. 36/2012)
Brummend hebt sich die ganze Fahrerkabine des Spezialfahrzeuges am Flughafen in Wien nach oben. Auf gleicher Höhe mit der Boeing 737 angekommen, öffnet eine Stewardess mit professionellem Lächeln von innen die Kabinentür.
Der Behindertenassistent des Flughafens geht in das Flugzeug vor und kommt kurz darauf verärgert und achselzuckend zurück: „Wir sind zu spät, der Pilot hat schon mit dem Boarding begonnen. Wir können nicht als Erste, sondern nur mehr als Letzte einsteigen, wenn alle sitzen. Und dann wird es verdammt eng.“
Man erklärt uns, dass es seit der Eröffnung des neuen Check-in 3 ständig zu verspäteten Abflügen kommt, wenn Rollstuhlfahrer mitfliegen. Während ich früher selbstständig zum Gate rollen konnte, sind wir jetzt ab dem Zeitpunkt des Eincheckens beim Airline-Schalter von der Hilfe des Behindertenassistenten abhängig. Er hatte uns über verschlungene Nebengänge und Sicherheitstüren sowie über drei enge Lifte zum Spezialbus gelotst.
Die Stewardess gibt uns ein Zeichen, ich werde auf einen kleinen Rollstuhl umgesetzt und halb rollend, halb tragend zu meinem Sitzplatz weit hinten in der Maschine gebracht. Meine Frau trägt das Beatmungsgerät. Ein Spektakel für die Passagiere, die sich wohl wundern, dass jemand mit dem Bedarf eines halben Krankenhauses in einem normalen Passagierflugzeug mitfliegt. Ja, ich kann fliegen – nur könnte alles einfacher und problemloser gehen, wenn Barrierefreiheit mitgedacht würde. Bis mein Elektrorollstuhl verstaut wird, vergeht eine weitere Viertelstunde. Wir starten mit großer Verspätung.
Barrierefreies Taxi in London
Ist London wirklich anders? Wieder holen uns Assistenten aus dem Flugzeug. Mein Elektrorollstuhl wartet bereits am Gate vor der Flugzeugtüre. Ich werde hineingesetzt, die Assistenten verabschieden sich und sind sogleich verschwunden. Alles hat hier seine Selbstverständlichkeit, und wir rollen alleine zum Ausgang des Flughafens Heathrow.
Zu unserer Verwunderung ist gleich das erste Taxi barrierefrei. Der Taxifahrer holt wie selbstverständlich eine Rampe aus seinem Kofferraum, und ich rolle mit dem Elektrorollstuhl hinein. In ganz Wien gibt es kein barrierefreies Taxi, in das man mit dem Elektrorollstuhl einfach so hineinrollen kann.
Zur Überraschung aller begrüßt Botschafter Emil Brix die Sportler nicht im Stehen, sondern auf einem Sessel sitzend, wofür er sich entschuldigt. Durch eine Autoimmunerkrankung ist er selbst seit einigen Monaten auf einen Rollstuhl angewiesen. „Es ist schon ein eigenes Gefühl, besonders bei Empfängen mit Stehtischen tief unten im Rollstuhl zu sitzen“, teile ich mit ihm meine Erfahrungen. Er nickt, „aber ich trainiere täglich am Gehbarren, und es geht schon wieder ganz gut“. Ich treffe Nico, einen jungen Tennisspieler aus der Wenzgasse.
Er nimmt am Jugendcamp der Paralympics, noch nicht an olympischen Wettkämpfen, teil. Er ist eine sportliche Zukunftshoffnung, die Teilnahme am Jugendcamp soll ihn motivieren, am Ball zu bleiben. Nico erzählt mir stolz, dass er zum Schulsprecher gewählt worden ist – sein beeindruckendes Selbstbewusstsein findet im Sport seinen Ausgangspunkt.
Ihm gegenüber komme ich mir als Nicht-Sportler ganz klein vor. Meine große sportliche Leistung der ersten beiden Tage in London war, dass ich ohne Strom überlebt habe. Unsere mitgebrachten Adapter passten zwar in die englischen Steckdosen, übertrugen aber nicht die notwendige Spannung für das Befeuchtungsgerät. Die Konsequenz: Mitten im Fußgängertunnel unter der Themse verstopfte sich plötzlich meine Beatmungskanüle. Aber meine persönliche Assistentin Katharina riss geistesgegenwärtig den Notfallkoffer auf, saugte ab und ich konnte wieder frei durchatmen. Zumindest eine olympiareife Leistung meiner Assistentin.
„Schau zu den Sternen, nicht zu den Füßen“
Eine Rollstuhlfahrerin schwebt durch die Olympiahalle, und der mehrfach für den Nobelpreis nominierte Physiker Stephen Hawking tippt mit dem einzigen Finger, den er noch bewegen kann, auf eine Computertaste, wobei seine digitale Stimme sagt: „Schau zu den Sternen, nicht zu den Füßen. Bleib neugierig auf die Vielfältigkeit des Universums.“
Ein überdimensionales Buch wird aufgeblättert: das Buch der Menschenrechte – es geht um Rechte und nicht um Gnade oder Mitleid. Bewegende Momente, die auch in den britischen Medien ihren Niederschlag finden. So kann Sport Meinungen verändern, Vorurteile abbauen und wesentlich zur Inklusion von behinderten Menschen beitragen.
Auf dem Olympiagelände stellt sich die Frage nach Normalität neu. Eine Frau im Rollstuhl – mit Kind, ein Mann mit einer Einkaufstasche unter dem rechten Arm – der linke fehlt, eine Frau mit Brille – ist sie blind? Im neugeschaffenen Einkaufszentrum finden sich neben Werbeplakaten mit perfekt gestylten Körpern auch Plakate mit behinderten Menschen. In einem Schaufenster entdecke ich eine Schildkröte mit Stöckelschuhen, goldenem Kopf und Krone. Was ist schon normal? Können diese Bilder nicht Realität werden im Alltag? So stelle ich mir eine inklusive Gesellschaft vor, wie sie sein sollte.
Die Spiele der Vielfalt haben begonnen. Die Stimmung ist aufgeheizt. Beim Rollstuhlbasketball, Frankreich gegen die USA, kämpfen Frauen mit athletischen Oberkörpern und festgeschnallten Beinen um den Sieg. Mit schräggestellten Rädern rasen sie aufeinander zu, rammen und blockieren einander. Zwei Spielerinnen verkeilen sich mit ihren Rollstühlen, die Hintere gibt der Vorderen einen festen Stoß, sodass sie auf die Seite kippt.
Die mit dem Rollstuhl am Boden liegende Sportlerin dreht sich über die Seite auf den Rücken und stößt sich, ohne ihre Hände zu benützen, mit einem Oberkörperschwung wieder in Sitzposition. Das Publikum jubelt. Eine XL-Spielerin vom amerikanischen Team wirft einen Korb nach dem anderen. Die Französinnen geben ihr Bestes, aber am Ende steht es 63:24 für die USA.
Sorry, hier fehlt noch die Rampe
Wenig zu jubeln gibt es für Österreich beim ersten Tischtennis-Match in der ExCel-Halle. Beide Spieler haben die Tischtennisschläger an die Hand bandagiert, beide sind Tetraplegiker. Der Iraner spielt seinen Tischtennisball wiederholt unfair knapp hinter das Netz, sodass der Österreicher Hans Ruep im Rollstuhl kaum eine Chance hat, den Ball zu erreichen.
Bei der Eröffnung des wunderschönen Österreich-Hauses am Trinity Square durch Bundespräsident Heinz Fischer treffe ich eine deutsche Journalistin im Rollstuhl, Christiane Link. Vor nunmehr sechs Jahren ist sie von Deutschland nach Großbritannien gezogen, bekam einen tollen Redakteursjob bei der BBC und gibt jetzt als freie Journalistin eine deutschsprachige Zeitung heraus. „Großbritannien gab mir eine neue Freiheit. Ich muss nicht mehr unter Druck ein barrierefreies WC suchen, diese gibt es überall gleich ums Eck.“ Ihr Partner beherrscht fünf Programmiersprachen und sieben Fremdsprachen. Er bekam in England einen Top-Job bei Yahoo und arbeitet nun gut bezahlt bei Yellow Pages.
„Seine Blindheit war dabei nie ein Problem“, erzählt sie. Ich frage sie nach dem Unterschied zwischen Deutschland und Großbritannien. Link: „Deutschland hat das medizinische Modell, bei dem es nur um Defizite geht. Hier geht es nach dem sozialen Modell um Fähigkeiten, Inklusion und Barrierefreiheit. Der Unterschied zwischen beiden Ländern ist, dass es in Deutschland und Österreich heißt: Sie kommen hier nicht rein, weil Sie behindert sind. In England heißt es jedoch: Sorry, Sie kommen hier nicht rein, weil wir noch keine Rampe gebaut haben.“ Ich nicke zustimmend.
Im Hintergrund läuft ein österreichischer Fernsehsender. Eine Fußballsendung von „Normis“, keine Spur einer Liveübertragung der Paralympics. Schade!