"Blindheit muss furchtbar sein und verdient unser aller Mitgefühl, doch das darf nicht dazu verleiten, Blinde vor Aufgaben zu stellen, die sie wegen ihrer Blindheit nicht erfüllen können."
Nun schien die streckenweise ziemlich unwürdige Diskussion um den diskriminierenden Ausschluss blinder JuristInnen vom Richteramt einigermaßen eingeschlafen, da sah sich ein Richter in Ruhe, Dr. Diether Fröhlich, offenbar dazu veranlasst, in der Kronenzeitung vom 10. Jänner 2003 einen Leserbrief zu diesem Thema zu veröffentlichen:
Blinde Richterin?
Frau Swoboda und Herr Pirker gaben in der „Kronenzeitung“ kürzlich ihrer Meinung Ausdruck, die Entscheidung des Justizministeriums, eine blinde Juristin nicht Richterin werden zu lassen, sei unbegründet.
Frau Swoboda fragte, was es denn gäbe, was eine Blinde als Richterin nicht bewältigen könne. Dazu die Antworten:
Sie muss während ihres gesamten Berufslebens lesen können, nämlich die tausenden Schriftstücke, aus denen die Gerichtsakten bestehen, damit sie die weiteren Anordnungen treffen kann, damit die von ihr zu erledigenden Angelegenheiten weitergehen und damit sie sich ein Urteil bilden kann, ob das, was in den Schriftstücken geschrieben steht, stimmt oder nicht. Man kann sich denken, wie viel z. B. in Riesenverfahren wie AKH, Lucona und Kaprun da zu lesen ist.
Ein Richter muss aber immer alles, was in seiner Abteilung anfällt (z. B. Berge von Post), lesen, er kann das nicht delegieren und unvorbereitet in eine Verhandlung gehen. Parteien und Rechtsanwälte würden sich zurecht beschweren, wenn der Richter gelesen hätte und nicht wüsste, was sie in ihren Angelegenheiten an das Gericht geschrieben haben.
Die Richterin muss ferner auch ihr ganzes Richterleben lang in juristischen Fachbibliotheken, also in Fachzeitschriften, Komentaren, Vorentscheidungen usw., und im Internet nachlesen können, um ihre Fälle rechtsrichtig zu entscheiden. Das kann stundenlanges Suchen in Werken und mittels Computer bedeuten.
Die Richterin muss bei Lokalaugenscheinen zu Protokoll beschreiben können, was sie sieht und was nicht, wie also die Sichtmöglichkeiten sind, etwa nach einem Verkehrsunfall. Sie muss Beweisurkunden ganz genau betrachten können, um daraus schließen zu können, von wem die Urkunde verfasst wurde und ob ihr Inhalt glaubwürdig ist; da kommt es sehr auf das Schriftbild an, und das muss die Richterin eben sehen können.
Was die Glaubwürdigkeit von der Richterin vernommener Personen anlangt, spielt der persönliche Eindruck, wie sich eine Person vor der Richterin eben verhält, ihre Mimik, ihre Gesten, eine große Rolle; Parteien und Rechtsanwälten kann nicht zugemutet werden, dass jemand als ihre Richterin tätig ist, der diesen Teil der Geschehnisse nicht selbst wahrnimmt und daher bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigen kann.
Blindheit muss furchtbar sein und verdient unser aller Mitgefühl, das sollte aber nicht dazu verleiten, Blinde vor Aufgaben zu stellen, die sie wegen ihrer Blindheit nicht erfüllen können.
Dr. Diether Fröhlich, Richter i.R., Kierling“
Dr. Fröhlich dürfte offensichtlich auf einem ähnlichen Informationsstand über die Berufs- und Lebensrealität blinder JuristInnen sein wie so mancher Angehörige des Justizministeriums oder der Gerichtsbarkeit; nun, das verwundert nicht, werden ja auch durch Massenmedien, wie den ORF, immer wieder Botschaften wie „Blinde in ihrer Welt der FINSTERNIS“ oder „Licht ins DUNKEL“ (der behinderten Menschen) etc in die Welt getragen, die das Bild von behinderten Menschen in den Köpfen nichtbehinderter Menschen prägen.
So dürfte auch Dr. Fröhlich entgangen sein, dass blinde JuristInnen seit Jahrzehnten in verschiedensten Verwaltungsbereichen tätig sind, dort ebenfalls in Fachliteratur stöbern, Akten lesen und bearbeiten, im Internet recherchieren müssen und auch Verfahren mit Zeugeneinvernahmen und Beweiswürdigung durchzuführen haben. Und dort gelten vergleichbare Spielregeln wie im Gerichtsverfahren. Ja es gibt sogar blinde JuristInnen, die Gebietskörperschaften – Bund, Länder, Gemeinden – in Gerichtsverfahren – z. B. Pflegegeldverfahren, Zivil- und Strafverfahren – als Parteienvertreter vertreten. Und in Deutschland sind seit Jahrzehnten blinde JuristInnen als Richter tätig; aktuell sind rund 60 blinde Richter – auch in Höchstgerichten – in Deutschland tätig.
Es dürfte sich in weiten Teilen der Bevölkerung noch immer nicht herumgesprochen haben, wie das in der Praxis funktioniert. Einscannen, Computer mit Sprach- und Brailleausgabe und Vorlesekräfte dürften offenbar nicht wirklich bekannt sein. Naja, man sollte vielleicht sagen, Dr. Fröhlich hat – wahrscheinlich eher zufällig – doch auf einen wirklichen Missstand in Österreich hingewiesen. In Deutschland gibt es nämlich für blinde JuristInnen im öffentlichen Dienst das Recht auf Vorlesekräfte; solche Vorlesekräfte stehen blinden JuristInnen in Österreich leider nicht zu, wodurch behinderte JuristInnen im öffentlichen Dienst in Österreich natürlich gewaltig benachteiligt werden.
Wieder einmal ein klassisches Beispiel dafür, dass es für ein Behindertengleichstellungsgesetz, das mit solchen Missständen aufräumt, höchste Zeit ist!
Insgesamt muss man jedoch schon sagen: Ein wenig mehr Einblick sollte man in all diese Lebensrealitäten blinder Menschen wohl haben, bevor man sich ein derart weitreichendes Urteil über die Fähigkeiten behinderter Menschen erlaubt. Dieses „berufskundliche“ Urteil Dr. Fröhlichs würde – wenn man dagegen berufen könnte – wegen Mangelhaftigkeit des (Beweis)verfahrens und unrichtiger Tatsachenfeststellung aufgehoben.
Blindheit ist, so kann ich als selbst blinder Jurist sagen, alles andere als FURCHTBAR; furchtbar sind lediglich die Benachteiligungen und Diskriminierungen, die uns in allen Lebensbereichen einmal mehr und einmal weniger widerfahren, weil Menschen ihre Urteile über behinderte Menschen aufgrund von Vorurteilen, Halb- oder Unwissenheit, Gleichgültigkeit oder gar aus Boshaftigkeit fällen.