Richtungsstreit: „gute“ gegen „schlechte“ Sonderpädagogik

In der Zeitschrift für Heilpädagogik (ZfH 11/2016) durfte sich „Kuno bleibt am Ball“ (KUBA) als evidenzbasiertes sonderpädagogisches Förderprogramm für sozial benachteiligte Kinder empfehlen. Es ist ein „Fake“, bekannten die Autoren nach Veröffentlichung und lösten einen Eklat innerhalb der Sonderpädagogik aus.

Symbolbild Zahlen unter Beobachtung
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Die Professoren für Sonderpädagogik, Katja Koch und Stephan Ellinger, haben in einem zweiten nachfolgenden Beitrag für die ZfH – den abzudrucken die Redaktion sich jedoch weigerte – deutlich gemacht, warum sie sich der Methode des Fake bedient haben. Sie verstehen darunter „eine Nachahmung, die im Gegensatz zur Fälschung selbst auf ihren gefälschten Charakter aufmerksam macht“.

Fake als Methode 

Mit ihrem Beitrag, der in auffälliger Weise „die einschlägige Logik einer Evidenzstudie“ nachahmt und dabei inhaltlich „pädagogischen Unsinn“ verbreitet, wollen sie eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der empirischen Sonderpädagogik in Gang bringen. 

Mit der „nahezu lautlosen“ Schwerpunktverschiebung sonderpädagogischer Forschung zu einem einseitig an den empirischen Bildungswissenschaften ausgerichteten Forschungsansatz „verliert die Sonderpädagogik ihre eigentliche Aufgabe aus dem Blick und wird mittelfristig auch die ihr drohende Legitimationsfrage nicht erfolgreich beatworten können“, so die Argumentation von Koch und Ellinger. Angesichts der von ihnen wahrgenommenen „bedrohlichen Schräglage“, verursacht durch die empirische Sonderpädagogik, ist die Rollenverteilung in dem aufgebrochenen Richtungsstreit eindeutig definiert. 

Koch und Ellinger sind die „guten“ Vertreter der Sonderpädagogik, die pädagogisch denken, während den „schlechten“ Vertretern der empirischen Sonderpädagogik „das Verschwinden des Pädagogischen aus der sonderpädagogischen Forschung und Lehre“ vorgeworfen wird. Koch und Ellinger legen es mit der Kunstfigur „Kuno“ als Fake nachweislich darauf an, die empirische Sonderpädagogik bloßzustellen und herauszufordern.   

Bloßgestellt: die empirische Sonderpädagogik 

„Man nehme zentrale Schlag- und Signalwörter in ausreichender Menge, verwende reichlich einschlägige Messwertangaben in Abbildungen und Tabellen und garniere das Ganze mit vielversprechenden Zitationen und internationalen Kooperationen.“ Sobald Studien diese Merkmale tragen, so die Annahme von Koch und Ellinger, hat der Inhalt gute Chancen, unwidersprochen als bedeutsam akzeptiert zu werden, weil die Mehrzahl der Leserschaft die Forschungsmethoden weder nachvollziehen noch überprüfen kann. 

Mit der Veröffentlichung von „Kuno“ in der ZfH beweisen die Autoren, dass mit dem evidenzbasierten Methodendesign auch Nonsens zur reputierlichen Evidenzstudie avancieren kann, ohne dass Fachleuten das Geringste auffällt.

Damit entlarven sie das wissenschaftliche Dogma der empirischen Sonderpädagogik von der Evidenzbasierung als höchst zweifelhaftes und unseriöses Unternehmen, das funktioniert wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. 

Mit „Kuno“ kritisieren Koch und Ellinger, dass sich evidenzbasierte Förderprogramme völlig indifferent zu der tatsächlichen Lebenssituation und Entwicklung der Kinder verhalten, die sie zu fördern vorgeben. Ziel solch standardisierter Förderung sei „eine Art Reparatur der Probanden“. Für die beiden „pädagogisch denkenden“ Sonderpädagogen ist die Idee, mit immer mehr standardisierten Programmen auf individuelle Folgen sozialer Benachteiligung zu reagieren, in sich „widersinnig“. 

Die Rolle der Zeitschrift für Heilpädagogik  

Koch und Ellinger haben in ihrem zweiten unveröffentlichten Beitrag für die ZfH entschuldigend erklärt, dass sie bewusst die ZfH als renommierte Fachzeitschrift ausgesucht hätten, um eine möglichst breite Fachöffentlichkeit auf den Missstand aufmerksam zu machen, „dass sich fachfremde Bewertungskriterien und Qualitätsmerkmale in die Sonderpädagogik eingeschlichen haben“. 

Dennoch schwingt in der Auswahl der Zeitschrift für die Veröffentlichung der Verdacht einer gesuchten Provokation mit. Schriftleiter der Verbandszeitschrift ist Prof. Clemens Hillenbrand, einer der führenden Vertreter der empirischen Sonderpädagogik in Deutschland.

Die skurrile Bezeichnung „Kuno bleibt am Ball“ für das erfundene Förderprogramm klingt wie eine ironische Anspielung auf „Lubo aus dem All“, ein selbstverständlich evidenzbasiertes sonderpädagogisches Förderprogramm für Kinder mit sozialen und emotionalen Entwicklungsproblemen von Prof. Clemens Hillenbrand. Wen wundert es, dass der zweite Beitrag von Koch und Ellinger zur Begründung des Fake von der Redaktion abgelehnt und der Vorgang stattdessen im Editorial der ZfH als „Täuschung“ verurteilt wurde. 

Die politische Relevanz des Richtungsstreits 

Vertreter der „guten“ und der „schlechten“ Sonderpädagogik unterscheiden sich nicht in ihrer Haltung zur Inklusion. In der Ablehnung des menschrechtsbasierten Inklusionsverständnisses sind sie sich absolut einig. Sie warnen vor der Auflösung des Sonderschulsystems und plädieren für den Erhalt des bestehenden Angebotsspektrums sonderpädagogischer Förderung als Alternative oder Ergänzung zu inklusiven Bildungsangeboten. 

Im Richtungsstreit geht es im Kern um die geeignete Strategie, eine Antwort auf die „drohende Legitimationskrise“ der Sonderpädagogik zu finden, die sich mit der politischen und gesellschaftlichen Inklusionsdebatte verbindet. Für die Vertreter der „guten“ Sonderpädagogik steht fest, dass die Entsorgung des „Pädagogischen“ durch die empirische Sonderpädagogik dem Ansehen der Sonderpädagogik schadet und strategisch keine zukunftsfeste Vorsorge für die Sonderpädagogik darstellt. 

Das Dilemma der „guten“ Sonderpädagogik

Gegen die kalte Modernisierung der Sonderpädagogik durch evidenzbasierte Methoden fordern die „Guten“ die Besinnung auf das „Pädagogische“. Es ist allerdings nicht mehr als eine Leerformel, weil das „Pädagogische“ identisch mit der Behauptung der Sonderpädagogik ist, die besondere pädagogische Zuständigkeit für bestimmte Kinder zu haben, denen die allgemeine Schule nicht gerecht werden kann.

Diese Behauptung diente in der Vergangenheit als erfolgreiches Mittel, um die Sonderschule als Institution, den Sonderpädagogen als Profession und die Sonderpädagogik als Wissenschaftsdisziplin durchzusetzen. In dem Maße, wie dieser Anspruch im Zeichen der Inklusion nicht mehr ausschließlich an die Sonderschule als Förderort gebunden ist, lässt sich aus Sicht der „Guten“ folgerichtig damit auch die „pädagogische“ Zuständigkeit der Sonderpädagogik ausweiten und absichern. 

Wie die „gute“ Sonderpädagogik allerdings die Legitimationskrise ihrer Diagnostik überwinden will, ist ihr ungelöstes Problem. Vielleicht ist sie doch auf die „bad guys“ der empirischen Sonderpädagogik angewiesen, die behaupten, mit Response to Intervention (RTI) ein evidenzbasiertes Präventions- und Förderprogramm mit einer zuverlässigen Diagnostik anbieten zu können.

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