Schatten der Vergangenheit

Die Verfolgung von Menschen mit Behinderungen im Nationalsozialismus und ihre Nachwirkungen. (Dieser Beitrag ist in STIMME erschienen.)

Broschüre wertes unwertes Leben
BIZEPS

„Chronisch normale Menschen“ ist eine überspitze Beschreibung von Menschen, die keine Behinderung haben. Es ist, wenn man so möchte, der Widerpart zur Umschreibung „Menschen mit Behinderungen.“ Aber: was ist schon eine „Behinderung,“ und: was ist schon „normal“?

Versteckt & Verwahrlost

Wenn man zur Wortfolge „Menschen mit Behinderungen“ assoziiert, kommen einem allerlei Bilder in den Sinn. Vielleicht von einem Menschen, der einem im Rollstuhl begegnet ist, möglicher Weise von Illustrationen eines Spendenaufrufs, der Porträts von Menschen mit Behinderungen enthielt, vermutlich von einer Person im unmittelbaren Umfeld, die „betroffen“ ist.

Jahrzehnte, ja Jahrhunderte lang waren Menschen mit Behinderungen unsichtbar. Weggesperrt, verschwiegen und aus Familien- wie Gesellschaftsleben ausgeschlossen gab es de facto keinen Kontakt mit Menschen mit Behinderungen. Die Bilder von Beeinträchtigung bzw. Behinderungen waren vor allem durch Aberglauben, Mystik und andere irrationale Zugänge geprägt.

Gerade der Umgang mit Menschen mit psychischen und psychiatrischen Beeinträchtigungen war im besten Fall von Exklusion, in vielen Fällen jedoch von erschreckenden und unvorstellbaren Praktiken, gezeichnet. Neurologische Beeinträchtigungen wie z. B. Epilepsie, die mangels des entsprechenden Wissens und entsprechender Medizin „unheimlich“ wirken konnten, führten zu grausamer „Behandlung“, vielfach zu Verwahrlosung und Verbannung.

Karitative Ideen, die gerade auch aus religiösen Überzeugungen gespeist wurden, waren ein wesentlicher Faktor in den Bemühungen, Menschen mit Behinderungen Unterstützung zukommen zu lassen.

Neben dem Ethos der Barmherzigkeit hat dabei auch die industrielle Revolution eine Rolle gespielt: Die vermeintliche Arbeitsunfähigkeit von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen machte ihre Versorgung notwendig. Das äußerte sich zum einen in Form von Almosen, zum anderen auch in der Errichtung von Institutionen, die Menschen mit Behinderungen eine Bleibe und damit Versorgung boten. Viele „Heime“ und andere Einrichtungen gehen auf religiöse Initiativen zurück, zahlreiche sind bis heute von kirchlichen Trägern geführt.

Die Medizin war selbstverständlich sehr daran interessiert, die Gründe für Beeinträchtigungen zu erkunden, auch getrieben von einer gewissen „Faszination“ für die körperlichen „Anomalien“ und die psychischen „Abweichungen.“ Der medizinische Ethos des „Heilens“ war dabei vor allem auf die Ausgleichung der vermeintlichen „Defizite“ und somit die Herstellung einer „Normalisierung“ gerichtet.

Das Streben nach einer psychischen Grundverfasstheit, die als „normal“ gilt und einem physischen Erscheinungsbild, das einer vorgeblichen „Norm“ entspricht, durchdringt viele Bereiche der Medizin. In der Forschung zu Beeinträchtigung bzw. Behinderung stand das Eruieren und Kurieren von Defiziten im Vordergrund. Die Verbrämung von Defizitausgleich und Normalisierung verfolgt dabei ein Menschenbild, dass einer real nicht vorhandenen Normvorgabe nacheifert.

Die Bestimmung läuft vor allem nach dem, was – vorgeblich – nicht sein soll: z.B. nicht gehen zu können. Anzuerkennen und Wert zu schätzen, dass es normaler ist verschieden zu sein, als einer vorgeblichen Norm zu entsprechen, ist dabei stark ins Eck gedrängt worden.

Nationalsozialismus

Im Gefolge der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts – allen voran Charles Darwin – wurde das Bestreben nach dem „perfekten chronisch normalen Menschen“ bzw. die Förderung von „hervorragenden Individuen“ verstärkt. Die „wertvolleren“ Menschen sollten bis hin zum Ausschluss der vermeintlich „weniger wertvollen“ forciert werden.

Im Nationalsozialismus wurde diese Herangehensweise Grundlage von Gesellschaftspolitik. Unter Zuhilfenahme von staatlichen Zwangsmaßnahmen wurde die Eugenik – oder „Erbgesundheitslehre“ – nicht nur propagiert, sondern radikal umgesetzt. Im Rahmen der so bezeichneten T4-Aktion – ein Kürzel für die Adresse Tiergartenstraße 4 in Berlin, Sitz der geheimen Zentraldienststelle der Nationalsozialisten – wurde „Eugenik“ praktiziert. Tausende Menschen wurden wegen Nichtentsprechung der Normvorgabe „hervorragende Individuen“ verfolgt und ermordet.

Unter anderem wurden zwischen 1940 und 1944 in der Nähe von Linz, im Renaissance-Schloss Hartheim mehrere Gaskammern eingerichtet, in denen weit mehr als 30.000 Menschen ermordet wurden.

Als „lebensUNwertes Leben“ deklariert, wurden Menschen erniedrigt und gefoltert, zu Experimenten missbraucht und schließlich durch Ersticken ermordet. War die Gaskammer in Hartheim „überlastet,“ wurden die Menschen in der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart in Linz durch Giftspritzen und Medikamentenüberdosen getötet. Unter den Ermordeten waren auch mehr als 1.000 Kinder – jene, die am Spiegelgrund in Wien gefoltert und ermordet wurden nicht eingerechnet.

Das Vorgehen wurde politisch gefördert, vor allem aber auch unter bedenklichen Umständen vorgeblich demokratisch legitimiert. Sämtliche rechtsstaatlichen Kontrollen und öffentliche Diskussionen waren ausgeschalten, die „Vernichtung“ von Menschen mit Behinderungen, aber auch politisch unliebsamen Personen, konnte so jahrelang ungehindert passieren.

Die Vertuschung dieser Gräueltaten wurde durch eine durchinszenierte Täuschungsmaschinerie verstärkt: mittels gefälschter Todesurkunden wurden Todesursachen, sowie -orte fingiert. Die betraf vor allem auch Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen („geisteskrank“) jüdischer Herkunft: War für Menschen mit Behinderungen die Eugenik als „Wohltat des Gnadentods“ vorgesehen, kam dies für Menschen, die nach den Nürnberger Rassegesetzen jüdisch waren, nicht in Frage.

Sanatorien, in denen sich mehrheitlich Menschen mit Behinderungen jüdischer Abstammung befanden, wurden noch vor dem Beschluss der so bezeichneten „Endlösung“ 1941 systematisch geräumt und die BewohnerInnen im Rahmen der T4-Aktion ermordet.

LebensUNwertes Leben?

Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Eugenik setzte unmittelbar nach Ende des Regimes ein. Das hat nicht verhindert, dass die „Forschungen“ weiter gegen einzelne Gruppen eingesetzt wurden, u. a. gegen Schwarze in den USA – um vermeintliche „Minderwertigkeiten“ zu untermauern. Bisweilen war die institutionelle Aufarbeitung beschämend unterdrückt und dauerte viel zu lange, so z. B. am Spiegelgrund in Wien.

Die zögerliche Aufarbeitung ist zweifellos alles Andere als hilfreich in der Beeinflussung der gesellschaftspolitischen Auswirkungen der NS-Eugenik auf die Nachkriegszeit. Welches Bild von Menschen mit Behinderungen haben wir heute? Welchen Einfluss hat die Diktion vom „lebensunwerten Leben“ auf das gängige Bild von Beeinträchtigung bzw. Behinderung? Anders gefragt: Inwiefern widerspiegeln sich diese Bilder – wohlgemerkt unbewusst – in den starken Tendenzen, Menschen mit Behinderungen aus der gesellschaftspolitischen Mitte auszuschließen?

Auch wenn es schwer fällt und schmerzt: Wir können in diesem Zusammenhang von einer gewissen Kontinuität sprechen. Wiewohl die Fakten rund um die Eugenik zwischenzeitlich solide aufgearbeitet sind und die einzelnen Geschichten der Ermordeten nach und nach der Anonymität entrissen wurden: Das Bild von Beeinträchtigung und Behinderung in Österreich ist auch deshalb so veraltet, weil die unfassbaren Vorstellungen über „weniger wertvolle“ Menschen noch nicht realisiert und verstanden worden sind.

Zu begreifen, was hier wie beurteilt wurde und welche Konsequenzen daraus gezogen wurden, übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen bei Weitem. Deshalb verwundert es nicht, dass die Auseinandersetzung mit diesen Bildern viel zu wenig stattgefunden hat und in der gesellschaftspolitischen Mitte, im so bezeichneten Mainstream, noch nicht – bzw. definitiv noch nicht ausreichend – angekommen ist.

Es mag provokant wirken, aber die unsägliche Debatte darüber, ob ÄrztInnen für Kunstfehler bei der Entbindung haftbar gemacht werden können und sollen, ist auch von einer mangelnden Reflexion über Eugenik (mit)geprägt. „Kind als Schaden“ ist das Schlagwort, unter dem hier zivilrechtliche Haftungsfragen ziseliert werden. Ein Mensch als „Schaden.“ Ein vermeintlicher „Mangel“ als „Wertminderung.“ Das alles als eine „Belastung,“ die – ökonomisch – ausgeglichen werden soll. Eine vermeintliche Norm, der nachgejagt wird ohne zu realisieren, dass es sich um eine Schimäre handelt.

Was ist schon normal?

Es ist völlig normal völlig verschieden zu sein. Ein modernes Gesellschaftsbild hat neben der wachsenden Buntheit an Familienbildern selbstverständlich auch widerzuspiegeln, dass es den „Normmenschen“ nicht gibt. Wenn man nicht die Defizite in den Blickpunkt nimmt, sondern den möglichen Bedarf an Assistenz und Unterstützung, vollzieht man einen überfälligen Perspektivenwechsel.

Dieser hat unter anderem den Vorteil, dass man recht schnell feststellt, dass auch „chronisch normale Menschen“ einen Unterstützungsbedarf haben: Während man bei Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen (auch Lernschwierigkeiten genannt) mit der Bestellung eines Sachwalters/einer Sachwalterin de facto ein Etikett von vermeintlicher Unfähigkeit kreiert, verschafft man PolitkerInnen und anderen Menschen in Führungspositionen den Nimbus der Macht, in dem man ihnen möglichst viele BeraterInnen zur Seite stellt.

Das eine ist negativ, das andere positiv konnotiert. In beiden Fällen handelt es sich um Unterstützung in der Entscheidungsfindung. Warum machen wir diese Unterscheidung? Warum müssen wir Menschen, weil sie anders sind, ab- und wegschieben? Warum sind sie weniger „normal“ als die, die Joghurt links rühren?

Ja, es gibt Menschen mit einem hohen Unterstützungsbedarf, die in die gesellschaftspolitische Mitte zu inkludieren eine Riesenherausforderung ist. Von vornherein zu behaupten, dass das nicht möglich sei, ist feige und im Ergebnis menschenverachtend. Es ist, nebenbei bemerkt, auch fürchterlich kurzsichtig: Die meisten Behinderungen entstehen erst im Laufe des Lebens, Hauptursachen sind Verkehrsunfälle und Kriege.

„Man ist nicht behindert, man wird behindert.“

Das Schlagwort wurde vor einigen Jahren vor allem von der Caritas geprägt. Der Ausschluss aus der gesellschaftspolitischen Mitte erfolgt vor allem auf Grund von Fehlvorstellungen, Vorurteilen und Stereotypen. Die Exklusion ist aber auch deshalb so stark, weil es keine – selbstverständlichen – Berührungspunkte, keinen gemeinsamen Alltag zwischen Menschen mit Behinderungen und „chronisch normalen Menschen“ gibt.

Wegsperren und Institutionalisieren ist im Gefolge des Nationalsozialismus wohl auch deshalb zur Grundhaltung im Umgang mit Menschen mit Behinderungen geworden, weil damit das Wegschauen und Ignorieren viel leichter möglich ist. Es ist höchste Zeit, fernab von Täter-Opfer-Zuschreibungen einzugestehen, dass die gesellschaftspolitische Mitte keine Vorstellung davon hat, wer Menschen mit Behinderungen sind: Menschen wie du und ich, latent verrückt, vielleicht ein wenig meschugge.

Kurz: so wie wir alle.

Denn: was ist schon „normal“?

Marianne Schulze, Menschenrechtsexpertin, ist die Urenkeltochter des Zionisten und Unternehmers Adolf Böhm, der infolge des persönlichen Drucks von Adolf Eichmann einen Nervenzusammenbruch erlitt und infolge „geistiger Umnachtung“ im April 1941 in Hartheim ermordet wurde. / Dieser Beitrag ist in „STIMME Nr. 86/2013“ erschienen.

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