Scheinheiligkeit auf Schweizerisch

Die schweizer Bevölkerung stimmt am 18. Mai über die Volksinitiative "Gleiche Rechte für Behinderte" ab. Die Diskussion ist in der heißen Phase.

Demo in Bern am 26. April 2003
Zentrum f. Selbstbestimmtes Leben Zürich

Widersprüchliches dringt über die Berge ins benachbarte Ausland. Vor kurzer Zeit wurde in der Schweiz ein „Behindertengleichstellungsgesetz“ beschlossen. Am 26. April 2003 versammelten sich 4.500 behinderte und nichtbehinderte Menschen; wir berichteten. Allerdings nicht um zu feiern, sondern weil sie sehr verärgert sind und ein „JA zur Behinderteninitiative“ fordern.

„Was nun?“, könnte man fragen. Da haben die Schweizer ein Behindertengleichstellungsgesetz erhalten und wollen ein „JA zur Behinderteninitiative“? Verwunderung und Erstaunen überkommt den Beobachter.

Unter dem Namen „Behindertengleichstellungsgesetz“ wird – zumindest in Österreich und Deutschland – ein Gesetz gemeint, dass von den Betroffenen erarbeitet wurde und von Ihnen gewünscht wird. Doch genau das ist der Unterschied zu der Schweiz.

Dort wurden in letzter Zeit 120.400 Unterschriften für die Gleichstellung behinderter Menschen gesammelt. Die Initiatoren nennen diese Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“.

Die Regierenden wollen aber den behinderten Menschen keine gleichen Rechte geben. Sie haben daher ein Gesetz beschlossen, welches am 1. Jänner 2004 in Kraft treten soll. Sie arbeiten nach dem Prinzip: „Ok. Ein bisschen Gleichstellung bekommt ihr. Aber wir bestimmen, was wir Euch erlauben.“. So sieht das angebliche Behindertengleichstellungsgesetz auch aus. Nein, völlig wertlos ist es nicht, aber die Verbesserungen sind Schweizer Käse nicht ungleich; es hat viele, viele große Löcher.

Der Schreck in der Behindertenbewegung war groß. Doch Schweizer können bekanntlich stur sein. Geradlinig hält die Behindertenbewegung daher an ihrer Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“ fest und erzwingt am 18. Mai 2003 darüber eine Volksabstimmung.

Aber auch die Gegner der Volksinitiative können stur sein. Sie informieren die Öffentlichkeit auf ihrer Homepage darüber, dass die Forderungen der behinderten Menschen völlig überzogen seien. Die behinderte Menschen wollen „obwohl höchstens zehn Prozent der gesamten Bevölkerung auf diese Anpassungen angewiesen sind“, dass sämtliche öffentlich zugänglichen Gebäude barrierefrei sind.

Auch anderswo schon längst als Dummheit erkannte Vorurteile werden wiedergegeben. Die Gegner warnen, dass „Wohngebäude, die möglicherweise nie von Behinderten bewohnt werden“ dann teurer würden. Fakten werden ignoriert. Z.B., dass JEDER zwischen dem Kleinkindstadium und der Pension immer wieder mobilitätseingeschränkt ist und diese Anpassung benötigt.

Doch die Gegner wollen nur das Beste für die behinderten Menschen, heucheln sie. Sie entgegnen dem Vorwurf, dass das Behindertengleichstellungsgesetz die Integration in der Schule nicht garantiert, folgendermaßen: „Die Eingliederung behinderter Kinder in Regelklassen per Gesetz und um jeden Preis orientiert sich nicht an den Bedürfnissen des behinderten Kindes.“

In dieser entlarvenden Haltung wird weiterargumentiert. Die Kosten zur Herstellung barrierefreier Verkehrsmittel „können wir uns beim besten Willen nicht leisten“.

Um ja nicht Behindertenfeindlichkeit unterstellt zu bekommen wird aber klargestellt: „Ein Nein zur Behinderten-Initiative ist kein Nein gegen die Behinderten, sondern ein Nein gegen zu rasche, zu absolute Forderungen.“ Und für jene, die noch immer glauben, Gleichstellung sei ein Bürgerrecht, sei festgehalten: „Solidarität darf keine Einbahnstraße sein.“.

Der Schreck sitzt tief. In der Schweiz gibt es also behinderte Menschen, die glauben, selbst zu wissen, was sie wollen. Und sie wollen sogar in Zukunft Schulen integriert, in öffentlichen Plätzen miteingeplant und in Verkehrsmitteln gleichberechtigt mitbefördert werden. Nein, nicht irgendwann, sondern möglichst bald.

Warum wird dann in der Schweiz abgestimmt, wenn doch eh alle nur das Beste wollen? Der Grund ist einfach. Die Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“ will eine baldige Änderung der Verhältnisse, die Gegner wollen auch in Zukunft darüber entscheiden dürfen, wann, wie und wo integriert wird.

Die einen wollen Rechte, die anderen nur Gnadenakte. Am 18. Mai wird abgestimmt. Ich halte die Daumen!

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