Schweiz: Behinderte Menschen in die Verfassung?

Die notwendige Vorfrage, ob Behinderte in unserem Land überhaupt diskriminiert seien, wurde sowohl von den Betroffenen als auch von den Vertretern und Vertreterinnen der Institutionen in der Arbeitsgruppe einhellig bejaht.

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Inspiriert durch Verfassungen anderer Nationen – im Vordergrund standen die USA und Deutschland – und von Verfassungstexten einzelner neuer deutscher Bundesländer setzte die ASKIO-Behinderten-Selbsthilfe 1995 eine Arbeitsgruppe ein, die klären sollte, ob der schweizerischen Bundesverfassung eine Behinderten-Gleichstellungsnorm einzufügen sei und falls ja, in welcher Form.

Selbstverständlich, aber gleichwohl erwähnenswert: Von 13 Mitgliedern der Arbeitsgruppe waren 7 behindert. Sogar einige Frauen waren mit dabei.

Die notwendige Vorfrage, ob Behinderte in unserem Land überhaupt diskriminiert seien, wurde sowohl von den Betroffenen als auch von den Vertretern und Vertreterinnen der Institutionen in der Arbeitsgruppe einhellig bejaht. Die Arbeitsgruppe beschloß, als Argumentationshilfe außer einem Verfassungstextvorschlag einen Diskriminierungskatalog mit konkreten Beispielen rechtlicher und tatsächlicher Diskriminierung zu verfassen.

Wie die meisten Verfassungen enthält auch die schweizerische eine allgemeine Gleichheitsnorm. Weshalb also ein spezieller Gleichstellungsartikel für Behinderte? Dazu gab und gibt es zwei gute Gründe: Erstens die erwartete appellative Wirkung, die in Deutschland den Ausschlag gegeben hat, zweitens die Existenz einer noch jungen Frauengleichstellungsnorm in unserer Verfassung, deren Nachahmung sich geradezu aufdrängte. Die Imitation des Frauenartikels führt über das Diskriminierungsverbot hinaus zu zwei höchst attraktiven Elementen, nämlich zu einem zusätzlichen Gleichstellungsgebot und zu einer Regel über die Drittwirkung (also der Wirkung gegenüber allen privaten Leistungsanbietern).

Der Wortlaut

Die Arbeitsgruppe formulierte in Zusammenarbeit mit namhaften Staatsrechtlern folgenden Textvorschlag für einen Behinderten-Gleichstellungsartikel: „Keine Person darf wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden“ (Dieses Diskriminierungsverbot entspricht dem neuen Art. 3 des deutschen Grundgesetzes).

Das Gesetz sorgt für die Gleichstellung der Behinderten vor allem in Schule, Ausbildung und Arbeit, Verkehr, Kommunikation und Wohnen; es sieht Maßnahmen und Anreize zum Ausgleich oder zur Beseitigung bestehender Benachteiligungen vor (Gleichstellungsgebot). Der Zugang zu Bauten und Anlagen sowie die Inanspruchnahme von Einrichtungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, sind gewährleistet (Drittwirkung).“

Wie kommt der Artikel in die Verfassung?

In der Schweiz gibt es viel direkte Demokratie und verhältnismäßig wenig Schwung, sie tatsächlich auszuüben. Neben anderen boten sich zwei Wege an: die an sich phantastisch attraktive Volksinitiative, zu der es 100.000 gültige Unterschriften braucht und die Parlamentarische Initiative, die ein einzelner Abgeordneter lancieren kann. Beide Wege führen unter enormen Zeitverschleiß (Jahre!) schließlich zur Volksabstimmung. Wir gehen – einstweilen – den zweiten Weg. Der einzige behinderte Nationalratsabgeordnete reichte im Herbst 1995 den obenstehenden Text als unverbindlichen Vorschlag ein.

Unsere Ausgangslage wird dadurch kompliziert, daß unsere Bundesverfassung gegenwärtig (genau seit Ende der sechziger Jahre) revidiert wird. Zur Revision nur soviel: das zuständige Ministerium hat schon mal den ersten Satz, also das Diskriminierungsverbot kampflos in den neuen Text aufgenommen. Dieser Erfolg hat sich ganz nebenbei eingestellt. Er deutet an, daß ein Diskriminierungsverbot ohne „Zutaten“ bereits weitherum für realistisch gehalten wird.

Wo stehen wir heute?

Die Parlamentarische Initiative Suter (so heißt unser Abgeordneter im Rollstuhl) hat Anfang 1996 die Vorprüfung durch eine erste Kommission überstanden. Im Juni hat der Nationalrat (Abgeordnetenkammer) ebenfalls einstimmig die Weiterbearbeitung beschlossen. Weiterbearbeitung bedeutet Prüfung und eventuelle Kastrierung unseres Textes durch eine Fachkommission. Diese Kommission ist jetzt an der Arbeit und sie arbeitet bis jetzt sogar unschweizerisch schnell.

Auf der Basis unseres Diskriminierungsberichts, der nach Lebensbereichen geordnet ist (Schule, Ausbildung, Arbeit, Verkehr, Kommunikation, Bauen, Wohnen, Kultur und Freizeit, Sexualität und Familie, Versicherungen und Bürgerrechte, Vormundschaft, Medizin und Forschung) werden gegenwärtig Experten – sogar ausländische – angehört.

Unsere Einwirkungsmöglichkeiten in dieser Phase sind nicht schlecht. Wir setzen daher einstweilen auf den eingeschlagenen Weg, behalten uns aber die Volksinitiative vor für den Fall, daß von unserem Text zuviel weggeschnitten wird. Dies wiederum weiß die andere Seite sehr genau. Und weil nicht sicher ist, ob wir mit einer radikalen Version am Ende doch durchkommen, wird sie voraussichtlich Konzessionen machen. Es gelten also die Regeln des kommunen Pokerspiels.

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