Schweiz: Camping vor dem Bundesamt für Sozialversicherungen in Bern

Vor kurzem hat das Schweizer Volk einem neuen Krankenversicherungsgesetz KVG zugestimmt.

Flagge Schweiz
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Laut Gesetzestext werden die gesamten Kosten der Grundpflege durch die Krankenkassen im Rahmen der obligatorischen Grundversicherung gedeckt. Doch schon bald drohten die Krankenkassen mit massiven Prämienerhöhungen.

Nationalrat Rychen, selbst ein einflußreicher Krankenkassenmann, startete im Parlament eine Initiative, die verlangt, daß die Grundpflege 60 Stunden im Quartal auf keinen Fall überschreiten darf. Das heißt für uns konkret, wer mehr als 40 Minuten im Tag auf Hilfe angewiesen ist, muß in ein Pflegeheim einziehen, wogegen wir uns mit allen Mitteln zu wehren versuchen.

Auch die Ergebnisse der bundesrätlichen Arbeitsgruppe „Einsparungen bei Spitex und Pflegeheimen“, in der das ZSL zu guter letzt doch noch vertreten war, aber ignoriert wurde, ließen nichts Gutes ahnen. Mit einem Rad schon im Pflegeheim, beschlossen wir vor dem Bundesamt für Sozialversicherungen BSV in Bern, ein dreitägiges Protestcamping zu veranstalten, um die Bevölkerung auf unsere Anliegen aufmerksam zu machen.

Während zehn Tagen intensiver Organisationsarbeit ließen wir unseren Ideen freien Lauf, informierten die Medien und über 700 Betroffene und Sympathisanten. Am Dienstag, dem 15. Juli 1997 um 10 Uhr, trafen wir mit mehreren Autos und Material im Kocherpark in Bern ein, schlugen unsere Zelte auf und schmückten den Zaun an der Effingerstraße, vis-à-vis des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV), mit Spruchbändern.

„Wir bleiben da!“

und „Wir sind die 10 %“ war überall unübersehbar zu lesen. Schon zu diesem Zeitpunkt, wie während allen drei Tagen, wurden wir von Journalisten belagert. Bald nach unserem Eintreffen in Bern, waren wir Schlagzeile Nummer eins in den Radionachrichten (was einmal mehr beweist, daß die Medien nach Spektakeln lechzen).

Das Fernsehen organisierte eine Live-Übertragung. Polizei und Stadtgärtnerei blieb keine andere Wahl, als uns wohl oder übel zu dulden. Während des Tages verteilten wir den Passanten Flugblätter und gingen mit dem „Pflegeradio auf Sendung“. Über Lautsprecheranlagen informierten wir die Bevölkerung über die Problematik und unsere Forderungen.

Betroffene erzählten in Interviews

über ihre Erfahrungen und Befürchtungen. Am zweiten Tag veranstaltete das Pflegeradio ein „Blasentraining“. Unter fachkundiger Leitung wurde den HörerInnen beigebracht, wie sie es anstellen könnten, nur noch einmal am Tag auf die Toilette zu müssen, was mit der vorgeschlagenen Einsparung im Pflegebereich notwendigerweise Tatsache würde!

Am Mittwoch Nachmittag wurde eine Delegation Betroffener vom Direktor des BSV, Otto Piller, zu einem Gespräch eingeladen. Während 2 1/2 Stunden schilderten wir ihm unsere Situation und begannen, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Er sicherte uns zu, daß in der Verordnung, die sein Amt zur Zeit bearbeitet, eine Ausnahmeklausel für LangzeitpatientInnen enthalten sein wird. Die Krankenkassen dürften sich auch in Zukunft nicht von ihrer Leistungspflicht drücken.

Unsere Forderung

nach Direktzahlungen im Rahmen des KVG wird das BSV in den kommenden zwei Monaten abklären. Endlich haben nun also die EntscheidungsträgerInnen direkt mit uns Betroffenen gesprochen. Auch in Zukunft werden sicher beide Parteien an einer konstruktiven Zusammenarbeit interessiert sein.

Unser Camp war auf jeden Fall ein Erfolg!

Von der Bevölkerung erfuhren wir nur positive Reaktionen. Nicht nur Spenden, sondern auch tatkräftige Mithilfe. Ein Häuflein von ca. 20 Behinderten (so viele haben effektiv im Park übernachtet und mitgemacht) kann, mit Wille und Kreativität schon einiges bewegen. Das Thema Assistenz für Behinderte ist heute für die allgemeine Bevölkerung zu einem Begriff geworden und es ist klar, daß die Krankenkassen und Spitex uns nicht einfach werden abschieben können. Schade, daß aus der Umgebung der Behinderten selbst so wenig Unterstützung – persönliche oder finanzielle – für solche Aktionen kommt.

Weiterhin wird die Entwicklung im Parlament und im Bundesrat unsere Aufmerksamkeit fordern. Diese könnten das jetzt Erreichte vollkommen in Frage stellen. Doch in diesem Fall werden wir uns wieder in der Öffentlichkeit zeigen.

Es ist an der Zeit,

daß wir selber für unsere Rechte einstehen und uns nicht länger aus Angst, Abhängigkeit und Hoffnungslosigkeit, aber auch Bequemlichkeit, fremdbestimmen lassen.

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