Schweiz: Große Aufregung um Plakatkampagne

Seit 2. November 2009 herrscht Aufregung um eine anonym lancierte Plakatkampagne in der gesamten Schweiz mit Sprüchen wie: "Behinderte kosten uns nur Geld".

Plakat: Behinderte liegen uns nur auf der Tasche
Bundesamt für Sozialversicherungen

Man kann sie vielerorts sehen. Die Plakate mit Sprüchen wie

  • „Behinderte liegen uns nur auf der Tasche“
  • „Behinderte sind dauernd krank“
  • „Behinderte kosten uns nur Geld“
  • „Behinderte arbeiten nie 100 %“

sorgen für Empörung unter den Betroffenen und Angehörigen. Das Medienecho ist dementsprechend gewaltig gewesen; umso mehr, weil die Öffentlichkeit nicht wusste, von wem die Plakate stammen.

Die Reaktionen waren verärgert: Von purer Lust an Provokation bis zu einem „politischen Rülpser“ der Rechten lauteten die Vermutungen. Andere meinten in Foren, dass dies im Sinne der Meinungsfreiheit auch gestattet sein müsse. Wieder andere, dass diese Sprüche wirklich die Meinung vieler Schweizerinnen und Schweizer widerspiegeln würden. (20 minuten berichtet über einige der Reaktionen auf seiner Homepage.)

Der Genfer Staatsrat François Longchamp beurteilte die Botschaften als „unverantwortlich„; ein Sprecher der Organisation Pro Infirmis sieht darin „eine Rätselkampagne, die mit allgemeinen Vorurteilen provoziert„.

Wer war der Auftraggeber?

Es mehrten sich die Indizien, dass vielleicht das Bundesamt für Sozialversicherungen, (zuständig auch für die „Invalidenversicherung (IV)“) hinter der Kampagne stehen könnte.

„Öffentliche Gelder sollten nicht für so etwas ausgegeben werden“, äußert sich Marc F. Suter, FDP-Nationalrat, der selbst im Rollstuhl sitzt, zu diesen Vermutungen. Das sei entweder ein schlechter Scherz oder einfach nur bösartig. „Neunzig Prozent der Bevölkerung lehnen solche Aussagen vehement ab“, vermutet er.

„Geradezu skandalös und in jeder Hinsicht unhaltbar erachten wir den Umstand, dass diese Kampagne womöglich mit Steuergeldern respektive Versicherungsgeldern finanziert würde, sollte sich Ihre Urheberschaft bestätigen“, schreibt dazu etwa IVB Behindertenselbsthilfe.

Offenlegung der Hintergründe

Am Höhepunkt des medialen Wirbels gab das Bundesamt für Sozialversicherungen am 5. November 2009 die Urheberschaft zu. „Nach landesweiten Protesten erklärt die Invalidenversicherung des Bundes, warum sie Plakate mit diffamierenden Aussagen gegen Behinderte hat aufhängen lassen“, informiert der Tagesanzeiger.

„Seit Montag sind Plakate mit dem provokativen ersten Teil der Aussage zu lesen, ab heute Donnerstag folgt die Plakatierung mit der vollständigen positiven Auflösung der Aussage“, ist einer diesbezüglichen Pressemeldung zu entnehmen.

Das Bundesamt möchte möglichst viele behinderte Menschen ins Arbeitsleben integrieren. „Diese Bemühungen führen zum größten Erfolg, wenn sich in der Gesellschaft, insbesondere auch im Arbeitsleben, die Einstellung ändert, wie behinderte Menschen wahrgenommen werden. Diese Bewusstseinsänderung zu unterstützen, ist das Ziel der laufenden ’Teaser’-Kampagne der IV“, erläutert das Bundesamt.

Sprüche werden ergänzt

In der nun angelaufenen Phase werden daher die Sprüche ergänzt und lauten nun:

  • „Behinderte liegen uns nur auf der Tasche, wenn wir ihre Fähigkeiten nicht nützen“
  • „Behinderte sind dauernd krank und trotzdem morgens die Ersten im Büro“
  • „Behinderte kosten uns nur Geld bis sie mal zeigen können, was sie wirklich drauf haben“
  • „Behinderte arbeiten nie 100 % denn sie kennen nur 120 %igen Einsatz“

Reaktionen

„Die Invalidenversicherung verteidigt die umstrittene Plakatkampagne, die seit zehn Tagen mit behindertenfeindlichen Sprüchen für Aufsehen sorgt“, ist auf dem Portal der Schweizer Kommunikationswirtschaft zu lesen. „Laut IV-Chef Alard du Bois-Reymond können die Tabus und Vorurteile nur mit solchen Provokationen gebrochen werden“, heißt es weiters. Er sei sich immer bewusst gewesen, dass die IV mit dieser Kampagne an die Grenze gehe, sagte Bois-Reymond am Donnerstag vor den Medien in Bern.

„Auch wenn provokative Thesen letztlich ins Positive gedreht würden, so sei dies doch ein Spiel mit dem Feuer, das den Behinderten kaum einen langfristigen Erfolg bringe“, vermutet die Organisation „Pro Infirmis“ und meint: „Diese Kampagne fällt in eine Zeit, in der das Klima gegenüber Menschen mit Behinderung bereits vergiftet ist.“

Nicht alle stoßen sich an der Kampagne, so nachrichten.ch: „Der Leiter des Zentrums für selbstbestimmtes Leben Peter Wehrli, der selber auf den Rollstuhl angewiesen ist, beglückwünschte die IV für den Mut. ‚Endlich hat die IV den Stier bei den Hörnern gepackt‘, sagte er.“ Auf BIZEPS-INFO Nachfrage meinte er, dass diese Vorgangsweise angesichts der verfahrenen Situation in der Schweiz eine gangbare Strategie sein könnte, wenn nun wirklich eine Diskussion entstünde.

Die Kampagne geht weiter. Nächste Woche sollen auch TV-Spots geschaltet werden.

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