Eine geplante Änderung des Schweizer Eisenbahngesetzes gemäß EU-Regelungen bringt massive Verschlechterungen für Menschen mit Behinderungen im Bahnverkehr. Der Behindertendachverband schlägt Alarm.

Etwas ist barrierefrei, wenn es für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe nutzbar und zugänglich ist, so steht es in der UN-Behindertenrechtskonvention. Auf den Bahnverkehr umgelegt würde das heißen, dass man einen Zug zum Beispiel über eine Rampe selbstständig betreten kann.
Der Schweizer Dachverband der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap verklagte zum Beispiel die Schweizer Bundesbahnen wegen einer zu steil geneigten Rampe bei den damals neuen „FV-Dosto“-Doppelstockzügen.
Das Bundesgericht entschied 2018 in dieser Sache zugunsten der Menschen mit Behinderungen. Diese müssen das Recht haben, den öffentlichen Verkehr selbständig benützen zu können. In Zukunft könnte eine solche Klage schwieriger werden, denn das Eisenbahngesetz soll geändert werden.
Diskriminierende EU-Regelungen
Wie in einem Online-Artikel der Zeitung „Der Bund“ vom 13. Juni 2023 berichtet wird, berät der Schweizer Ständerat, welcher die Kantone vertritt, über eine Änderung des Eisenbahngesetzes. Die geplante Änderung würde das Recht von Menschen mit Behinderungen auf barrierefreies Reisen akut gefährden.
Grund für die Gesetzesänderung ist eine Vereinbarung der Schweiz mit der europäischen Eisenbahnagentur (ERA). Diese Vereinbarung erlaubt den Betrieb von in der Schweiz zugelassenen Zügen in der EU und läuft Ende des Jahres aus.
Um die Vereinbarung zu verlängern, will man künftig die EU-Regeln des sogenannten vierten Eisenbahnpakets übernehmen. Ziel dieses Eisenbahnpaketes ist es, durch die Schaffung einheitlicher Regelungen und Anforderungen für den europäischen Eisenbahnraum, die unterschiedlichen nationalen Hürden bei der Fahrzeugzulassung abzubauen sowie Genehmigungsverfahren zu vereinfachen.
Die EU-Regeln sind allerdings wesentlich schlechter, wenn es um die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen geht. Caroline Hess-Klein, Leiterin der Gleichstellung bei Inclusion Handicap, sagt diesbezüglich:
Man kann gemäß EU-Recht einen Zug bauen, in den man nur über Treppen einsteigen kann, solange gewährleistet ist, dass der Person im Rollstuhl geholfen wird.
Ein solches Vorgehen ist eindeutig ein Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention.
Klagen werden erschwert
Ein weiteres Problem ist, dass die EU auch kein Verbandsbeschwerderecht kennt, das ansonsten in der Schweiz üblich ist. Verbände haben das Recht, Beschwerden einzureichen, um die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes sicherzustellen. Das gilt zum Beispiel auch, wenn es um die Bewilligung neuer Züge geht.
Übernimmt man aber die EU-Regelungen, kann in Zukunft nicht mehr der Verband klagen, sondern nur noch einzelne Personen eine Beschwerde einreichen. Diese können sich zwar von einem Verband unterstützen lassen oder vertreten werden, die Zulassung eines Zuges müsste aber vor dem Europäischen Gerichtshof angefochten werden, der wiederum das laschere und benachteiligende EU-Recht anwendet.
In Zukunft könnte Inclusion Handicap also nicht mehr als Verband dagegen vorgehen, wenn Züge nicht selbständig nutzbar sind.
Update (16.9.2023): Parlament für einheitliche Zulassungsverfahren für Rollmaterial