Schweizer Assistenzbeitrag zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Seit vier Jahren haben Menschen mit Behinderungen in der Schweiz, die zuhause leben und Hilfe im Alltag brauchen, Anspruch auf Assistenzbeitrag. Wie hat sich die neue IV-Leistung etabliert? Wo gibt es Schwachstellen? Ist sie ein valables Instrument zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention? Ein Kommentar.

Flagge Schweiz
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Drei Viertel der Bezügerinnen und Bezüger eines Assis­tenzbeitrags sind gemäss Evaluation des Bundesamts für Sozialversicherungen BSV zufrieden und schätzen den Gewinn an Selbstbestimmung sehr. Das ist eine erfreuliche Entwicklung, doch muss man bei Entwicklungen immer auch den Ausgangspunkt beachten.

Entwicklungspotential vorhanden

Vor Einführung des Assistenzbeitrages gab es für Schwerbehinderte gerade mal 60 Franken pro Tag, um den Hilfsbedarf zu decken. Ohne die Arbeit von Frei­willigen und der Familie war es also unmöglich, zuhause zu wohnen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Diese Situation hat sich merklich verbessert. Über den Assistenzbeitrag können immerhin bis acht Stunden Assistenz pro Tag abgedeckt werden.

Wer mehr braucht, ist jedoch nach wie vor auf freiwillige Hilfe angewiesen. Freiwillige Hilfe ist gut und recht, degradiert aber Hilfe­empfänger/­innen zu Bittstellen­den. Und das steht im Widerspruch zu Artikel 19 der UN-­Behindertenrechtskonvention, der eine unabhängige Lebensführung und Teilhabe an der Gemein­schaft fordert. Der Assistenzbeitrag hat hier noch Entwicklungspotential.

Arbeitgebermodell schränkt ein

Ein weiteres Problem ist die Limitierung auf das Arbeit­gebermodell. Will ich vom Assistenzbeitrag protieren, muss ich meine Assistierenden arbeitsvertraglich an­ stellen. Sogar Maryka Laâmir vom BSV gesteht ein, dass dieser Umstand abschreckend wirken kann. Der erwähnte administrative Aufwand ist jedoch nicht das einzige Problem; und dieses wurde erst noch verklei­nert. Um die Schwarzarbeit zu bekämpfen, wurde die Anstellung von Personen im Privathaushalt nämlich stark erleichtert. Ein mindestens so grosses Problem ist, dass für die benötigten Hilfestellungen längst nicht immer ein Anstellungsverhältnis möglich oder sinnvoll ist.

Wenn jemand mit einer Sehbehinderung zum Beispiel zu einer Sitzung an einem neuen Ort erwartet wird, braucht diese Person Begleitung für den Weg hin und zurück. Während der Sitzung aber ist keine Hilfe nötig. Wer aber lässt sich schon anstellen für 2 × 15 Minuten mit einer nicht bezahlten Pause von drei bis vier Stunden dazwischen? Das ist absolut praxisfremd und fördert erst noch die prekären Arbeitsverhältnisse, die man doch eigentlich bekämpfen will. Viel einfacher wäre es doch, wenn man in solchen Fällen eine erweiterte Bahnhofhilfe oder ein Taxi über den Assistenz­beitrag finanzieren könnte.

Entschädigung für Angehörige macht Sinn

Praxisfremd ist auch die Bestimmung, wonach Angehörige nicht über den Assistenzbeitrag entschädigt wer­den dürfen. Stellen wir uns ein Ehepaar vor, das die Nacht im gemeinsamen Ehebett verbringt. Nichts Ungewöhnliches, oder? Stellen wir uns weiter vor, die Ehefrau brauche aufgrund einer Behinderung nachts Hilfe beim Umlagern. Damit die Frau den Assistenzbeitrag einsetzen kann, muss sie jemanden von auswärts an­stellen, der extra deswegen die Nacht bei ihr verbringt und sie umlagert, während ihr Mann neben ihr liegt.

Macht genau dieser Ehemann dieselbe Arbeit, bekommt er garnichts. Dabei ist Nachtassistenz kräfteraubend, wenn sie über Jahre Nacht für Nacht geleistet wird. Entsprechend wäre eine Pensenreduktion am Arbeitsplatz nicht abwegig. Nur: Niemand bezahlt den Erwerbsausfall. Es wäre zwar möglich, die nächtliche Hilfe des Ehepartners mit der Hilflosenentschädigung zu vergüten, denn diese ist eigentlich frei verwendbar. Dann fiele aber beim Assistenzbeitrag die Nachtpauschale weg.

Kurz: Wer die nächtliche Hilfe des Partners mit der Hilflosenentschädigung bezahlt, hat weniger Geld für Assistenz tagsüber. Der Assistenzbeitrag wurde unter anderem mit dem Ziel eingeführt, die Angehörigen zu entlasten. Wie gross die Entlastung wohl wirklich ist, wenn nachts jemand ins Schlafzimmer kommt und die Ehefrau umlagert, während man daneben liegt?

Rekrutierungsprobleme?

Interessant ist, dass viele Bezüger/­innen bei weitem nicht den ganzen zugesprochenen Assistenzbeitrag ausschöpfen. Probleme bei der Suche von geeigneten AssistentInnen werden im Interview angesprochen, die Lösung scheint unklar. Sind die Löhne, die man mit dem Assistenzbeitrag bezahlen kann, zu tief? 50 Franken für eine Nachtpräsenz sind allemal nicht fürstlich. Oder sind es zu kurze Einsatzzeiten?

Wie eben schon er­wähnt, kann man mit dem Assistenzbeitrag keine Leerzeiten bezahlen. Nur tatsächlich geleistete Stunden können auch vergütet werden. Oder ist die Arbeit als Assistent/­in einfach noch nicht genügend bekannt?

Ein weiter Weg

Der Assistenzbeitrag soll auf jeden Fall helfen, die 7. IVG­-Revision zu unterstützen, erwähnt Maryka Laâmir. Eigenartig nur, dass der Assistenzbeitrag in den Vernehmlassungsunterlagen mit keinem Wort erwähnt wird.

So bleibt es wohl an den Behindertenorganisationen, immer und immer wieder auf die Kinderkrankheiten des Assistenzbeitrags hinzuweisen, damit diese überwun­den werden können und er in Zukunft doch noch ein valables Instrument zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wird – und zwar für alle Menschen mit Behinderungen. Wir bleiben am Ball!

Dieser Kommentar erschien in AGILE.CH Die Organisationen von Menschen mit Behinderung in der Ausgabe Mai 2016.

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