Allzu oft wird von nichtbehinderten Politikern und Medienvertretern über das "selbstbestimmte Leben" behinderter Menschen gesprochen, berichtet und entschieden; doch kaum jemand weiß, wie ein "selbstbestimmtes Leben" aussieht und was es dazu braucht.
Selbstbestimmt zu leben bedeutet für behinderte Menschen, frei und selbst darüber entscheiden zu können, wie sie ihr Leben gestalten und führen wollen, welche Hilfen und von wem und in welcher Form sie diese annehmen wollen und die Möglichkeit zu haben, an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens teilzunehmen. Obwohl das so einfach und selbstverständlich klingt, ist es in unserer Gesellschaft leider bei weitem noch keine Selbstverständlichkeit, behinderten Menschen jene Rahmenbedingungen zu bieten, die sie benötigen, um tatsächlich selbstbestimmt leben zu können.
Gerade vor dem Hintergrund der jetzt wieder einmal vom Zaun gebrochenen Diskussion um das Pflegegeld scheint es notwendig, ins Bewusstsein zu rufen, welcher grundlegender Rahmenbedingungen es bedarf, um als behinderter Mensch tatsächlich selbstbestimmt leben zu können. Hier möchte ich jedoch nur die absolut unabdingbaren Notwendigkeiten für ein „selbstbestimmtes Leben“ behinderter Menschen in unserer Gesellschaft zeigen:
Respekt
Um selbstbestimmt leben zu können bedarf es des Respekts der nichtbehinderten Menschen gegenüber dem behinderten Menschen, seiner Menschenwürde, seinen Bedürfnissen und den von ihm getroffenen Entscheidungen, wie er sein Leben organisieren, gestalten und führen möchte.
Das Beschneiden der Rechte behinderter Menschen, die Entscheidungen über die Köpfe behinderter Menschen hinweg, die Präsentation behinderter Menschen als arm, zweitklassig, außerirdisch oder ähnliches in den Medien sind Formen der Respektlosigkeit.
Wenn es etwa in einer aktuellen Informationssendung des ORF heißt „Die Blinden leben in ihrer Welt der Dunkelheit“, so wird – bewusst oder unbewusst – ein falsches und für behinderte Menschen herabwürdigendes und nachteiliges Bild der Lebensrealität dieser Menschen geschaffen; damit werden aber unnötigerweise unangenehme Gefühle, Ängste und Vorurteile gegenüber behinderten Menschen in der Gesellschaft hervorgerufen. Das wäre etwa eine Form der Respektlosigkeit, da mit ein wenig seriöser Recherche unschwer die wahre Lebensrealität hätte präsentiert werden können, womit wohl auch Ängste, Vorurteile und Berührungsbarrieren abgebaut hätten werden können.
Offenheit und Flexibilität
Um selbstbestimmt leben zu können bedarf es auch der Offenheit der nichtbehinderten Menschen für neue Wege und Sichtweisen; es bedarf der Offenheit für unkonventionelle Lösungen. In engem Zusammenhang mit dieser Offenheit steht auch eine nötige Flexibilität, auf all das rasch und richtig zu reagieren.
Wenn sich gerade die Politik, Entscheidungsträger oder die Medien nicht über die Lebensrealitäten und Bedürfnisse behinderter Menschen entsprechend informieren und deshalb Lösungen, die von behinderten Menschen angestrebt werden, kurzerhand als nicht zielführend oder illusorisch abtun, so ist das klar mangelnde Offenheit und diese führt zur Erschwerung oder gar Verhinderung der Führung eines selbstbestimmten Lebens behinderter Menschen, da dadurch in aller Regel die falschen Lösungen angestrebt werden.
So würden beispielsweise auch blinde Menschen das bestehende Angebot an Museen und Ausstellungen in Anspruch nehmen, wenn es für sie benützbar und erlebbar wäre; durch akustische Informationen oder die Möglichkeit des Betastens von Exponaten könnte man das unschwer realisieren. Trotz dieses Lösungsvorschlages der behinderten Menschen, herrscht bei den nichtbehinderten Menschen noch immer die Meinung vor „Blinde haben ja eh nichts von einem Museum oder einer Ausstellung“ und so wird kurzerhand diese Lösung in den Wind geschlagen und die falsche „Lösung“ angeboten; blinde Menschen müssen halt, weil sie ja sowieso nichts davon haben, keinen Eintritt zahlen.
Ein ähnliches Problem zeigt sich bei der Gestaltung von Wahllokalen und der selbständigen persönlichen Wahl. Obwohl körperbehinderte Menschen und Menschen im Rollstuhl seit Jahren darauf drängen, dass Wahllokale barrierefrei zu gestalten sind, damit sie ihre Stimme, so wie andere WählerInnen auch, in ihrem Wahllokal und in der Wahlzelle abgeben können, setzen sich die zuständigen Wahlbehörden standhaft über dieses Bedürfnis und die geforderte Lösung hinweg; vor der irrigen Annahme, dass die Wahl außerhalb der Wohnung im Wahllokal für behinderte Menschen sowieso zu beschwerlich und unzumutbar wäre, bietet man lieber die aus Sicht der nichtbehinderten Menschen viel bessere Lösung einer fliegenden Wahlkommission an.
Wissen und Verständnis
Um selbstbestimmt leben zu können, bedarf es des Wissens der nichtbehinderten Menschen um die Lebensrealitäten behinderter Menschen in dieser Gesellschaft. Es bedarf aber auch des Verständnisses der nichtbehinderten Menschen für die daraus unweigerlich entstehenden Bedürfnisse behinderter Menschen.
Nur, wer weiß, dass RollstuhlfahrerInnen kaum ein Restaurant besuchen können, weil sie etwa nicht hinein kommen oder es keine für sie benützbaren Toiletten gibt, kann auch Verständnis dafür haben, dass hieraus das Bedürfnis behinderter Menschen entsteht, eine rechtliche Grundlage zur Verpflichtung der Gastronomen zur barrierefreien Gestaltung ihrer Lokale zu fordern. Nur wer weiß, dass blinde JuristInnen deshalb in Österreich nicht RichterInnen werden dürfen, weil man ihnen aus Unwissenheit Fähigkeiten abspricht, die sie sehr wohl haben, wird Verständnis dafür haben, dass blinde Menschen fordern, mit solchen diskriminierenden Berufsverboten Schluss zu machen.
Rechte
Um selbstbestimmt leben zu können, bedarf es darüberhinaus auch durchsetzbarer Rechte für behinderte Menschen, an allen Bereichen des täglichen Lebens, gleichberechtigt und chancengleich teilhaben zu können. Es bedarf also eines sogenannten Behindertengleichstellungsgesetzes.
Nette Worte und guter Wille sind zwar schön, doch um wirklich spürbar eine starke Position zu bekommen, müssen Rechte da sein, die man auch mit rechtlichen Möglichkeiten – Klage oder Beschwerde – durchsetzen kann.
Wahlfreiheit
Um selbstbestimmt leben zu können, muss man auch die Möglichkeit haben, frei zu entscheiden, ob und wie man sein Leben gestalten und führen möchte oder welche Assistenzleistungen man von wem und in welcher Form in Anspruch nehmen will oder wie man die zur Verfügung stehenden Mittel – z. B. das Pflegegeld – einsetzen möchte, um seinen eigenen Bedürfnissen und Qualitätsanforderungen bestmöglich zu entsprechen.
Der Zwang, bestimmte Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen, wäre somit der Gegensatz zur Wahlfreiheit und eine gravierende Minderung der Lebensqualität. Gerade wenn es um Assistenzleistungen bei sehr intimen Lebensbereichen – z. B. Hilfe bei der Notdurftverrichtung oder beim Waschen bzw. An- und Ausziehen – geht, wird wohl jeder verstehen können, dass man sich die Personen, die man hier als AssistentInnen haben möchte, selbst wählen will. Aber auch blinde Menschen möchten nicht einfach von irgendwelchen Begleit- oder Vorlesepersonen zwangsbeglückt werden, macht man dabei doch so manche unliebsame Erfahrung.
Persönliche Assistenz
Um selbstbestimmt leben zu können, bedarf es eines hinreichenden Angebots an persönlicher Assistenz, die behinderte Menschen in dem benötigten Ausmaß und in der für sie passenden Weise in Anspruch nehmen können.
Wenngleich es wünschenswert wäre, alle Barrieren aus der Welt zu schaffen, wird das wohl kaum möglich sein; ein völlig selbständiges und selbstbestimmtes Leben ohne Assistenz – z. B. durch Begleiter bei Wegen außerhalb der Wohnung oder Vorlesekräfte für blinde Menschen – ist so gut wie nicht denkbar.
Soziale Sicherheit
Um selbstbestimmt leben zu können, bedarf es auch eines gut ausgebauten und funktionierenden Systems sozialer Sicherheit. Gerade Leistungen, wie das Pflegegeld stellen hier einen wichtigen Aspekt dar. Nicht zuletzt hängt die Führung eines selbstbestimmten Lebens auch davon ab, ob man es sich finanziell leisten kann. Persönliche Assistenz gibt es nun einmal nicht zum Nulltarif!
Alle diese Rahmenbedingungen wären nötig, um behinderten Menschen tatsächlich die Führung eines selbstbestimmten Lebens zu ermöglichen.
Wir sind derzeit noch in einer Phase, in der über Gleichstellungsrechte behinderter Menschen seitens der Politik lediglich gesprochen wird; konkretere Maßnahmen als Absichtserklärungen stehen aus. Persönliche Assistenz ist hierzulande Mangelware. Das Wissen um die Lebensrealitäten behinderter Menschen ist immer noch stark unterentwickelt, woraus Unsicherheit, Ängste und Vorurteile entstehen, die immer wieder die Offenheit und das Verständnis für neue Wege und unkonventionelle Lösungen auf ein Minimum reduzieren. Diese Ängste und Vorurteile werden oftmals auch noch durch die Art der Präsentation behinderter Menschen und ihrer Lebensrealitäten in den Medien gefördert. Und auch die Leistbarkeit eines selbstbestimmten Lebens wird, obwohl sie noch lange nicht hinreichend gewährleistet ist, von vornherein in Frage gestellt, wie jüngst durch die Diskussionen um den Ersatz des Pflegegeldes durch Sachleistungen und Dienstleistungsschecks.
„Selbstbestimmt leben“: Leicht dahingesagt, aber wie?
Nun, noch ist nicht aller Tage Abend. Vielleicht hilft das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderung 2003 – nach dem missglückten Start – der österreichischen Politik und den Medien doch ein wenig, endlich spürbar den Weg in Richtung eines gleichberechtigten, chancengleichen und selbstbestimmten Lebens behinderter Menschen in unserer Gesellschaft einzuschlagen!