Selbstbestimmt-Leben-Netzwerk feiert Geburtstag

Vor 20 Jahren war die Geburtsstunde der europaweiten Vernetzung der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung.

ENIL
ENIL

Der Geburtsort war Straßburg, das Geburtsjahr war 1989. Dort fand vom 12. bis 14. April 1989 in den Räumen des Europäischen Parlaments die Europäische Konferenz für Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderungen statt.

Diese Konferenz wurde mit der Unterstützung der Grünen des Deutschen Bundestages abgehalten und es nahmen mehr als einhundert behinderte Menschen aus Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Schweden, Schweiz, Ungarn und den Vereinigten Staaten von Amerika teil.

Diskutiert wurden die aktuelle Situation in den einzelnen Ländern, die Möglichkeiten einer internationalen Vernetzung und die Verfassung einer Resolution, welche das System der Persönlichen Assistenz beschreibt und von den politisch Verantwortlichen einfordert. Aufbauend auf den damals aktuellen Menschenrechtspapieren der UNO fordert die Resolution – die als „Straßburger Resolution“ (Text siehe am Ende des Artikels) Geschichte gemacht hat – die Schaffung der erforderlichen Rahmenbedingungen für Persönliche Assistenz auf der Basis eines Selbstbestimmten Lebens als ein Bürgerrecht ein.

In den intensiven Diskussionen wurde den Teilnehmerinnen und Teilnehmern immer bewusster, dass die Konferenz kein isoliertes Ereignis sein dürfe, sondern der Beginn einer Reihe von Aktivitäten für einen längeren Zeitraum. Das Ergebnis war die Gründung einer Organisation mit dem Namen „European Network on Independent Living“ – ENIL. Hauptziele waren unter anderem die Weitergabe und Verbreitung von guten Ideen und Projekten auf einer „grass roots“-Ebene. Es sollte ein unbürokratischer Zusammenschluss von Organisationen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung sein.

Vom 14. bis 17. September 2009 soll nun in Straßburg mit einem sogenannten Freedom Drive der 20. Geburtstag von ENIL gefeiert werden. Bei diesem europaweiten Treffen von Menschen mit Behinderung werden auch Begegnungen mit Abgeordneten und der Disability Intergroup des Europäischen Parlaments sowie anderer Schlüsselinstitutionen stattfinden.

Hier möchten wir die denkwürdige Resolution nochmals zur Kenntnis bringen:

„Straßburger Resolution“

Wir, behinderte Menschen aus Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Schweiz, Ungarn und den Vereinigten Staaten von Amerika haben uns vom 12. bis 14. April 1989 im Europäischen Parlament, Straßburg, Frankreich, versammelt.

Das Thema unserer Konferenz lautete: „Soziale Dienstleistungen persönlicher Assistenz als Basis für ein selbstbestimmtes Leben.“ Derartige soziale Dienstleistungen für behinderte Menschen umfassen die gesamte Palette des alltäglichen Lebens, wie z.B. Wohnen, Mobilität mit öffentlichen oder privaten Transportmitteln, Zugang zu allen Gebäuden und Einrichtungen, Bildung, Arbeit und soziale Sicherheit.

In dem Bewusstsein unserer – auf eigenen Erfahrungen basierenden – einzigartigen behinderungsbezogenen Sachkenntnis müssen wir selbst die Initiative in den uns existentiell politischen Bereichen ergreifen.

Wir verurteilen deshalb Aussonderung und Institutionalisierung behinderter Menschen als unmittelbare Menschenrechtsverletzung. Wir sind der Auffassung, dass es die Pflicht einer jeden Regierung ist, Gesetze zum Schutz der Menschenrechte Behinderter zu erlassen, einschließlich Gesetze zum Schutz des Gleichheitsgebots zwischen behinderten und nichtbehinderten Personen.

Mit aller Entschlossenheit machen wir unser fundamentales Menschenrecht auf vollständige und gleichberechtigte Integration in die Gesellschaft – wie verankert in der Menschenrechtskonvention der Vereinigten Nationen (die 1985 explizit auch auf behinderte Menschen ausgedehnt wurde) – geltend, und vertreten die Auffassung, dass die Realisierung dieses Menschenrechts, die Bereitstellung sozialer Dienste (wie „Persönlichen Assistenz“). die an dem Prinzip des selbstbestimmten Lebens ausgerichtet sind, voraussetzt.

In den Empfehlungen des UN-Welt-Aktionsprogrammes (§ 115) heißt es ausdrücklich, dass „die Mitgliedsstaaten die Bereitstellung von unterstützenden Diensten fördern sollten, um Behinderten ein möglichst eigenständiges Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen, und dabei sicherstellen müssten, dass Behinderte die Möglichkeit zur eigenständigen Entwicklung und Verwaltung dieser Dienste hätten“.

Die Resolution 1 der 43. UNO-Generalversammlung (1988) bekräftigt die Gültigkeit des Welt-Aktionsprogrammes (1988) und die Resolution 2 betont, dass „der Förderung der Chancengleichheit mit Nicht-Behinderten besondere Bedeutung beigemessen werden sollte“.

Angesichts dieser und angesichts weiterer, gleichgesinnter Empfehlungen der Europäischen Kommission der Europarates, verlangen wir, dass diese Ziele in Politik umgesetzt werden, damit sichergestellt wird, dass die Weichen für die Chancengleichheit behinderter Menschen in Europa gestellt werden.

Zur Unterstützung der internationalen Behindertenpolitik der regierungsunabhängigen Organisation „Disabeld People’s International“ (DPI ), die sich insbesondere dem Aufbau von Netzwerken und Initiativen zur Förderung von Selbstbestimmung behinderter Menschen als Teil ihrer Gleichberechtigung widmet, rufen wir die Regierungen und politischen Entscheidungsträger zur Durchsetzung folgender Prinzipien auf:

  1. Der Zugang zu Diensten persönlicher Assistenz ist ein Menschen- und Bürgerrecht. Diese Dienste sollten Menschen aller Altersgruppen und mit allen Arten von Behinderungen auf der Grundlage tatsächlicher Bedürftigkeit, unabhängig von den persönlichen Vermögensverhältnissen, vom Einkommen oder Familienstand und der Zahl der Kinder zu Verfügung stehen.
  2. Behinderte, die persönliche Assistenz in Anspruch nehmen, sollten unter einer Vielzahl entsprechender Angebote wählen können, die in ihrer Pluralität, die Möglichkeit eröffnen, zwischen verschiedenen Formen des selbstbestimmten Lebens zu wählen. Selbstbestimmung kann unserer Auffassung nach von allen Menschen ausgeübt werden, unabhängig von einer juristisch sachkundigen „Einwilligungsfähigkeit“.
  3. Diese sozialen Dienste sollten denjenigen Behinderten, die sie benutzen, die gesellschaftliche Teilnahme in allen Bereichen des Lebens, wie z.B. Wohnung, Arbeit, Schule, Freizeit und Reisen sowie politische Aktivitäten, ermöglichen. Mit derartigen sozialen Dienstleistungen muss es behinderten Menschen auch ermöglicht werden, eine Familie zu gründen und die damit verbundenen Verantwortlichkeiten wahrzunehmen.
  4. Diese Dienste müssen denen, die sie in Anspruch nehmen, langfristig bis zu 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche zur Verfügung stehen; sie müssen auch in dringenden Fällen kurzfristig verfügbar sein. Diese Dienste sollten Hilfe bei der körperlichen Pflege, Kommunikation, im Haushalt, zur Mobilität, Arbeit und ähnliches umfassen.
  5. Die Budgetverantwortlichen sollen sicherstellen, dass den Leistungsempfängern genügend Mittel zur Verfügung stehen, um Beratung und Schulung wahrnehmen zu können oder seine Assistenten zu trainieren, soweit dies der/die Behinderte für erforderlich hält
  6. Die bereitgestellten Mittel müssen für die Assistenten eine marktgerechte Entlohnung und Sozialleistungen sowie alle gesetzlichen und von den Gewerkschaften vorgeschriebenen Leistungen sowie die Verwaltungskosten umfassen.
  7. Die Mittel sollten aus einer zentralgesetzlich abgesicherten Quelle kommen und den Einzelnen ausgezahlt werden ohne kommunale Unterschiede. Die Leistungen sollen weder als verfügbares, steuerpflichtiges Einkommen behandelt werden, noch sollen sie auf andere Ansprüche über Sozialleistungen der Empfänger angerechnet werden.
  8. Die Benutzer sollten ihre Assistenten selbstbestimmt wählen können. Angehörige sollte aus dem Kreis der bezahlten Assistenten nicht gesetzlich ausgeschlossen werden.
  9. Ressourcenknappheit oder fehlende bzw. überlastete ambulante Einrichtungen oder umfangreicher persönlicher Dienstleistungsbedarf dürfen nicht Grund sein für die Unterbringung einer Person in einer Anstalt.
  10. Für die Geltendmachung des gesetzlichen Anspruchs auf Persönliche Assistenz soll ein einheitliches Rechtmittelverfahren auf gerichtlicher Ebene zur Verfügung stehen, von dem innerhalb eines angemessenen Zeitraumes Gebrauch gemacht werden kann, und das die Inanspruchnahme rechtlicher Beratung auf Kosten des Staates ermöglicht.
  11. Zur Erreichung all dieser Ziele müssen Behinderte und ihre Organisationen auf allen Ebenen der politischen Entscheidungsfindung, einschließlich Planung, Durchführung und Entwicklung, entscheidend beteiligt werden.
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich