Selbstbestimmte Entscheidungen unterstützen, nicht behindern

Das Erwachsenenschutzgesetz (ErwSchG) löste vor knapp sechs Jahren nach umfassender Vorbereitung und breiter Diskussion die alte Sachwalterschaft ab. Die Reform orientierte sich an der UN-Behindertenrechtskonvention, welche rechtliche Stellvertreterungen nicht mehr kennt.

Gespräch und Broschüre: Erwachsenenvertretung Vertretungsnetz
Johannes Zinner

Im Erwachsenenschutzgesetz gibt es noch selbstbestimmte Möglichkeiten der Vertretung, wie die Vorsorgevollmacht (mit viel Gestaltungsspielraum) und die gewählte Erwachsenenvertretung, bei der eine Person mit eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit eine Vertretung für bestimmte Angelegenheiten noch festlegen kann, soweit diese Vollmacht in Grundzügen verstanden wird und die vertretene Person danach handeln kann.

Gewählte Erwachsenenvertretungen können bei Erwachsenenschutzvereinen sowie bei Anwält:innen und Notar:innen errichtet, im öffentlichen Vertreterverzeichnis registriert und im Zweifelsfall auch widerrufen werden.

Selbst gewählte Vertretung durch Vorsorge

Das 2. ErwSchG entfaltet seine Wirkung seit Juli 2018. Bis 1.1.2024 wurden österreichweit bereits über 8.000 gewählte Erwachsenenvertretungen registriert. Tendenz stark steigend. Rund zwei Drittel der gewählten Erwachsenenvertretungen wurden bei einem Erwachsenenschutzverein errichtet und registriert, was angesichts des oft komplexen Beratungsaufwandes nicht verwundert.

Eines der vom Gesetzgeber formulierten wichtigsten Ziele für das Erwachsenenschutzgesetz besteht darin, die zeitliche Dimension der Vertretung möglichst zu reduzieren und strikt zu reglementieren. Erwachsenenvertretungen sind nun per Gesetz entweder befristet oder eben selbstbestimmt.

Konkret bedeutet dies für die vier definierten Möglichkeiten der Vertretung: Die Vorsorgevollmacht und die gewählte Erwachsenenvertretung, mit der Möglichkeit, Vertretungsumfang und Vertreter:in selbstbestimmt zu wählen, sind nicht befristet, können aber durch die vertretene Person widerrufen werden.

Diese „Exit-Möglichkeit“ ist bei der Vorsorgevollmacht besonders wichtig, da zwischen Zeitpunkt der Errichtung und dem konkreten Wirksamwerden oft eine sehr langer Zeitraum mit vielen unterschiedlichen Entwicklungen liegen kann. Um diese Entwicklung der Vorsorgevollmacht besser einschätzen zu können, wäre eine gezielte Evaluierung erforderlich, die bisher fehlt.

Kein Ablaufdatum, dafür gerichtliche Kontrolle

Während Vorsorgevollmachten erst nach Registrierung des eingetretenen Vorsorgefalls, also meist nach einigen Jahren wirksam werden, wird die gewählte Erwachsenenvertretung zeitnah nach Registrierung wirksam. Gerade bei jüngeren Menschen mit geminderter Entscheidungsfähigkeit hat sich diese Vertretungsvariante als sehr geeignet erwiesen, um den dokumentierten Willen von Menschen mit Behinderungen bestmöglich und individuell umzusetzen.

Da eine zeitliche Befristung für die gewählte Erwachsenenvertretung fehlt, kommt den jährlichen Lebenssituationsberichten an das Bezirksgericht eine Kontrollfunktion zu. Die Erfahrungen der Erwachsenenschutzvereine zeigen, dass die bisher gewählten Erwachsenenvertretungen über Jahre Bestand haben und den Zweck – Erhaltung möglichst umfangreicher Selbstbestimmung trotz geminderter Entscheidungsfähigkeit bzw. trotz Vertretung – erfüllen.

Im Zuge einer Reform des Erwachsenenschutzgesetzes könnte über eine verpflichtende Überprüfung von gewählten Erwachsenenvertretungen nach einigen Jahren nachgedacht werden, damit die Rechte der vertretenen Personen durch Kontrolle noch besser abgesichert werden.

Angehörige bleiben wichtigste Gruppe bei Vertretungen

Die Anzahl der registrierten gesetzlichen Erwachsenenvertretungen hat sich seit 2019 mehr als verdoppelt und hält 2024 bei rund 26.500 Vertretungen, wobei eine Dunkelziffer aus weiterhin als aktiv eingestuften (alten) „Angehörigenvertretungen“ (rechtliche Vertretung durch den nächsten Angehörigen) nicht ausgeschlossen werden kann.

Mit dem ErwSchG wurde die „gesetzliche Erwachsenvertretung“ neu konzipiert und umfasst nun einen definierten Personenkreis nächster Angehöriger, welche nach Registrierung drei Jahre befristet eine Vertretungsfunktion übernehmen können. Nach drei Jahren endet diese Erwachsenenvertretung. Es muss neuerlich geprüft werden, ob die Vertretung in rechtsgeschäftlichen Angelegenheiten tatsächlich weiterhin unvermeidlich ist und nur so ein möglicher Nachteil verhindert werden kann.

Die im Gesetz sehr deutlich definierten Hürden werden – so die Erfahrungen der letzten Jahre – nicht so gesehen und daher auch nicht ausreichend beachtet. So wird weiterhin die Auszahlung des Pensions-Taschengeldes nach Pensionsteilung aufgrund einer stationären Betreuung und Kostenübernahme durch die Sozialhilfe „überwacht“ und der geringe Betrag von unter zweihundert Euro verwaltet sowie die Verwendung eingeteilt – und damit die Selbstbestimmung der Betroffenen stark reduziert.

Eine Erwachsenenvertretung zu beenden, scheitert oft an konstruierten zukünftigen Vertretungserfordernissen – beispielsweise fiktive medizinische Behandlungszustimmungen, Vermögenserklärungen gegenüber Behörden etc.

Die vertretene Person möchte oft die Sicherheit der Unterstützung nicht verlieren, vermeidet Veränderungen und betont, dass ohnehin alles passt und dem Wunsch aller – der Vertreter:in, der vertretenen Person selbst und den Umwelten – entspricht.

In anderen Vertretungskonstellationen bleibt das Problem der fehlenden Alternativen, mit denen die Person mit geminderter Entscheidungsfähigkeit passend und erfolgreich unterstützt werden kann. Grundsätzlich ist im Erneuerungsverfahren zu prüfen, warum die Vertretung nicht beendet werden kann, wie die entsprechende Bestimmung zum Clearing deutlich macht und im Sinn der UN-BRK  in den Mittelpunkt stellt.

Solange die gesetzliche Erwachsenenvertretung so einfach errichtet und dann auch erneuert werden kann, solange es keine passenden Alternativen gibt und solange die gesellschaftliche Sensibilität bei Eingriffen in die Selbstbestimmung nicht erheblich steigt, solange wird die Zahl der gesetzlichen Erwachsenenvertretungen steigen.

Eine ähnliche „Erfolgsgeschichte“, wie sie der „alten“ Sachwalterschaft mit ihrer Nützlichkeit für das Verwaltungssystem der Gemeinden und Länder zugeschrieben wurde, ist für die nächsten Jahre zu befürchten.

Gerichtliche Vertretungen gehen zurück

Mit dem ErwSchG wurden die Rechte von Menschen mit Behinderungen deutlich verbessert, Selbstbestimmung wird nun konkret und vielfach abgesichert. Die Handlungsfähigkeit bleibt erhalten, automatische Einschränkungen gehören fast durchgehend der Vergangenheit an und Erwachsenenvertretungen sind nun immer zeitlich befristet, der Wirkungsbereich muss aktuell und genau beschrieben werden.

Das klingt ganz anders als die Erinnerung an die Praxis der nun abgelösten alten Sachwalterschaft. Aber obwohl der gesetzliche Rahmen neu ist, lebt besonders im informellen Bereich die grundlegende Haltung weiter. Viele Menschen sprechen heute noch von „Entmündigung“, obwohl dieses alte Rechtsinstitut schon 1984 abgeschafft und durch die später mehrfach novellierte Sachwalterschaft ersetzt wurde.

Die Durchsetzung neuer Rechte für benachteiligte Bevölkerungsgruppen ist immer schwierig und ein langwieriger Prozess. Daher ist es so wichtig, dass geplante engmaschige Kontrollinstrumente keinesfalls aufgeweicht werden. Dazu zählen die Berichte ans Gericht (Antrittsbericht, jährlicher Lebenssituationsbericht) und das Einhalten vorgesehener gerichtlicher Kontrollen und Genehmigungen.

Gerade bei der gerichtlichen Erwachsenenvertretung muss – im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention – darauf geachtet werden, ob die Stellvertretung wirklich unvermeidbar ist (Alternativen laufend abklären, Wirkungsbereiche eng definieren und deren zeitliche Dimension auf das unbedingt Erforderliche eingrenzen).

Vorhandene Selbstbestimmungskompetenzen müssen gefördert werden und erhalten bleiben.

Einen wesentlichen Beitrag zur Beachtung der Grenzen von Stellvertretung und Reflexion der Unvermeidbarkeit leistet das verpflichtende gerichtliche Verfahren (zur Bestellung und später im Erneuerungsverfahren) im dreijährigen Rhythmus (bei Bedarf auch in kürzeren Abständen).

Auch wenn manchmal Kritik daran laut wird, dass alle drei Jahre das gesamte Verfahren samt Anhörung durch die:den Richter:in notwendig wird, erscheint eine Maximaldauer von drei Jahren angesichts der erforderlichen Kontrolle bei Eingriffen in die Selbstbestimmung von Menschen mit geminderter Entscheidungsfähigkeit gerechtfertigt.

Die nun gestartete Evaluierung des Erwachsenenschutzgesetzes könnte jedoch auch ein Augenmerk auf die Frage der Unterstützung für die Vertreter:innen legen.

Alternativen und gesellschaftliche Entwicklung

Schon vor Beschlussfassung des 2. Erwachsenenschutzgesetzes stand fest, dass neben klaren gesetzlichen Bestimmungen und einem engmaschigen Verfahren auch mögliche Alternativen sehr wichtig sind.

Im föderalistischen Bundesstaat Österreich bedeutet dies, dass neben gesetzlichen Bestimmungen (Zivilrecht als Kompetenz des Bundes) und kleineren Impulsen auf Bundesebene insbesondere die Länder und Gemeinden die Unterstützungen für Betroffene als sozialpolitische Maßnahmen umsetzen müssen. Die UN-BRK verpflichtet alle Ebenen des Staates, jedoch findet konkrete Realisierung in der Finanzierung immer wieder ihre Beschränkung.

Der „große Wurf“, also umfassende Angebote, um Menschen in ihrer Selbstbestimmung wirksam zu unterstützen, kann nur in einem gemeinsamen Kraftakt von Bund und Ländern, eventuell auch mit einem umfassenden Artikel-15a-B-VG-Vertrag gelingen. Hier gibt es noch einiges zu tun.

Die Gesamtzahl der gerichtlichen Erwachsenenvertretungen (und übergeleiteten vormaligen Sachwalterschaften) sinkt kontinuierlich: von 52.700 Sachwalterschaften zum 1. Juli 2018 auf nun 35.066 zum Jahresbeginn 2024.

Hier kam es auch zu einer Verschiebung hin zu gesetzlichen Erwachsenenvertretungen (jetzt bereits 26.570) und gewählten Vertretungen (8.120 zum 1.1.2024). Die Effekte der Vorsorgevollmachten lassen sich aus der Statistik nicht verlässlich ablesen, es ist aber anzunehmen, dass auch hier ein wesentlicher Beitrag glückte.

Ehemalige Sachwalterschaften konnten beispielsweise als gewählte Erwachsenenvertretungen registriert werden – oder wurden überhaupt beendet, weil familiäre bzw. gemeindenahe Unterstützung aktiv werden können. Noch wichtiger wäre es, wenn sich das Umfeld verändern und geeignetere Unterstützung anbieten würde.

Gemeinden und Länder könnten Hilfen in der gemeindenahen Dienstleistungen intensivieren, damit beispielsweise Behördengänge oder auch Bankgeschäfte auch ohne Erwachsenenvertretung selbstbestimmt erledigt werden könnten. Ähnliches gilt für den Zugang zu fast allen Sozialleistungen. Hier wird derzeit die Hürde leider immer höher, die Anträge werden länger, die Anforderungen steigen.

Ergebnis ist der Anstieg der Non-take-up-Quote und im schlimmsten Fall neben der entstehenden Notlage auch die Anhäufung von Schulden. Die Armutsforschung belegt diesen Zusammenhang.

Stellvertretung ist wichtig, darf aber nicht Dritte entlasten

Grundsätzlich darf eine Erwachsenenvertretung nicht zum Nutzen von Dritten – beispielsweise Behörden, Heimen, Vermieter etc. – eingerichtet werden. So ganz genau ist dies in den Bestellungsverfahren nicht immer herauszufiltern.

Als Beispiel: Eine Gemeinde fordert zur Anmeldung für das Gemeindeheim das Vorliegen einer Erwachsenenvertretung – und prüft die Entscheidungsfähigkeit bzw. die im Bedarfsfall vorhandene Unterstützung, die eine im Einzelfall hergestellte selbstbestimmte Entscheidungsfähigkeit ergeben kann. Sicher ist das kompliziert, aber eine Stellvertretung ist nicht zulässig.

Gerade bei Anträgen für Sozialleistungen (Mindestsicherung, Behindertenhilfe, Zuschüsse etc.) und in Zusammenhang mit Pflege und betreutem Wohnen, sollte die Prüfung einer Erwachsenenvertretung sehr restriktiv erfolgen.

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3 Kommentare

  • Ich schlage vor, auch schon lange bestehende Vertretungen zu evaluieren und zusätzlich eine Person von außen als Unterstützung beizuziehen.
    Der Grat zwischen Beratung / Coaching und Beeinflussung kann sehr schmal sein.

  • Ich habe mich als Mutter eines Sohnes mit Down-Syndrom und ASS mit bestem Wissen und Gewissen um alle Angelegenheiten gekümmert. Da er jetzt im Erwachsenenalter in ein Wohnhaus für Menschen mit Behinderung eingezogen ist, bin ich offiziell seine Erwachsenenvertretung geworden, vor allem deshalb, um seine Rechte zu vertreten. In einem Streitgespräch mit einer Einrichtung wurde mir einmal vorgeworfen, dass ich ja nur die Mutter sei, aber nicht die gesetzliche Vertretung. Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Die Erwachsenenvertretung bringt für Angehörigen wieder zusätzliche Bürokratie und das kostet Zeit und Kraft. Eltern sollten hier mehr Rechte haben, auch ohne Erwachsenenvertretung. Da die geistige Behinderung meines Sohnes lebenslänglich bestehen bleiben wird, finde ich die zeitliche Begrenzung auf immer nur 3 Jahre sehr mühsam.
    Vielleicht könnte man für sehr nahe Angehörige (Eltern), die ihr ganzes Leben für ihre Kinder Verantwortung übernehmen, einen längeren Zeitraum als Gültigkeit vorsehen, bei entsprechenden Diagnosen (Down Syndrom)
    Wir würden damit sehr entlastet. Das Gericht kann jederzeit unangemeldet kommen, um sich einen Eindruck vom Zustand des Betreuten zu bekommen. Vor allem soll das Gericht dort nachschauen, wo diese Menschen untergebracht (weggesperrt) sind, in den Tagesstätten und in den Wohnhäusern…..Leider können wir Angehörigen Pflege nicht rund um die Uhr und so viele Jahre leisten, wir sind auf diese Einrichtungen komplett angewiesen….

    • Frau Frsichauf hat es auf den Punkt gebracht.
      Danke für die offenen Worte!
      Die Einrichtungen für M.m.B., ich spreche in der Mehrzahl, da es überall so läuft, wie diese Mutter es beschreibt, wo ein System aufgebaut wurde, in welchem Betreuungs- bzw. Beschäftigtigungsplätze für M.m.B., die keine Alternative, als diese Einrichtungen haben, als „Faustpfand“gehandelt werden, um Kritik hint anzuhalten.
      Man droht Angehörigen, die es wagen ,unschöne Dinge anzusprechen,dass ihre Lieben den Einrichtungsplatz verlieren und in der „Großfamilie“ der Einrichtungen auch keinen mehr bekommen werden, wenn sie es wagen, Kritik zu üben.
      Da scheuen Heimleiter nicht zurück, bei Gericht zu intervenieren, um kritischen Angehörigen ihre Sachwalterschaft, nun Erwachsenenvertretung streitig zu machen,wie es bei mir der Fall war.
      Meiner lieben Schwester mit Down Syndrom, hat die Heimleitung ins Gesicht geschmissen, „dass sie schon einen neuen Sachwalter für sie in Aussicht hätte!“
      Andrea, konnte eine Nacht nicht schlafen , da sie große Angst hatte, mich zu verlieren.
      Die Richterin, die mich schon lange kennt und weiß, wie gut unser geschwisterliches Verhältnis ist und wie sehr ich um das Wohl meiner Schwester mit Down Syndrom bedacht bin, ist den Wünschen der Heimleiter nicht nachgekommen, mit dem Preis, dass meine Schwester gekündigt wurde.