Selbstbestimmung trotz Stellvertretung – gelingt es in der Praxis?

Vor drei Jahren trat das 2. Erwachsenenschutzgesetz in Kraft. VertretungsNetz zieht Resumée.

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VertretungsNetz

Das Erwachsenenschutzgesetz gilt neben der UN-Behindertenrechtskonvention als Meilenstein der Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen. Als es am 1.7.2018 in Kraft trat, gab es in Österreich einen Höchststand von 52.746 Sachwalterschaften. “„Drei Jahre später ist die Zahl der aufrechten ‚gerichtlichen Erwachsenenvertretungen‘, wie sie nun genannt werden, um 22 % zurückgegangen, auf 41.178“”, sagt Martin Marlovits, stv. Fachbereichsleiter Erwachsenenvertretung bei VertretungsNetz.

„Wir begrüßen den Rückgang an gerichtlich bestellten Vertretungen, das war ja eines der Ziele der Reform. Die Anzahl an rechtlichen Vertretungen, die ohne Mitsprache der betroffenen Person entstanden sind, ist jedoch in Summe deutlich angestiegen. Grund dafür ist die ‚gesetzliche Erwachsenenvertretung‘ als neue Vertretungsvariante, die mit dem Prinzip der Selbstbestimmung und Art 12 UN-BRK nur zum Teil vereinbar ist.“

Mit einer gesetzlichen Erwachsenenvertretung registriert sich ein/e Angehörige/r als VertreterIn eines Menschen, der aufgrund eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit seine Vertretung nicht wählen kann. In den letzten drei Jahren wurden bereits 19.385 solcher Vertretungen registriert.

Das Problem dabei: Die vertretene Person hat zwar ein Recht auf Widerspruch, muss dem Entstehen der Vertretung aber nicht (explizit) zustimmen. Die Gesamtanzahl der gesetzlichen und gerichtlichen Vertretungen liegt per Juli 2021 bei rund 60.000 – deutlich höher also als die Anzahl der Sachwalterschaften vor drei Jahren.

Erfreulich ist der kontinuierliche Anstieg an „gewählten Erwachsenenvertretungen“. Betroffene bestimmen hierbei selbst, wer für welche Angelegenheit VertreterIn sein soll. In drei Jahren wurden 4.761 gewählte Erwachsenenvertretungen errichtet, sechs von zehn davon bei Erwachsenenschutz-Vereinen.

Menschen entscheiden trotz Erwachsenenvertretung selbst

„Zugleich sehen wir, dass wesentliche Inhalte des Gesetzes in der Praxis erst ansatzweise angekommen sind“, kritisiert Marlovits. Gerade die COVID-Pandemie hat dies aufgezeigt: „Laut geltender Rechtslage bestimmen Personen, die entscheidungsfähig sind, selbst, ob sie einer medizinischen Behandlung – z.B. einer COVID-Impfung – zustimmen oder nicht, und zwar auch, wenn sie eine Erwachsenenvertretung haben.“

Entscheidungsfähig zu sein heißt, dass man in Grundzügen eine medizinische Behandlung und deren Folgen versteht. „Trotzdem wissen wir von Pflegeeinrichtungen, die diese Entscheidung von vornherein dem/der ErwachsenenvertreterIn überlassen wollten – und sogar von ErwachsenenvertreterInnen, die die Impfung für eine vertretene Person verweigern, ohne sie in die Entscheidung einbezogen zu haben. Das ist nicht nur fern von Inklusion, sondern auch gesetzwidrig.“

Nur für knapp 7% der Personen mit einer gerichtlichen Erwachsenenvertretung gilt aktuell ein sogenannter „Genehmigungsvorbehalt“. Sie brauchen für Entscheidungen in bestimmten Angelegenheiten die Zustimmung ihrer Erwachsenenvertreterin oder ihres Erwachsenenvertreters, bspw. wenn sie größere Einkäufe tätigen oder einen Mietvertrag unterschreiben. Gibt es einen solchen Vorbehalt nicht, kann man solche Dinge grundsätzlich selbst entscheiden (und wie alle anderen Menschen auch einmal eine falsche Entscheidung treffen).

„Obwohl das Gesetz klare Vorgaben macht, kommt es im Alltag oft zu Problemen“, schildert Marlovits Beobachtungen aus der Praxis. Überzogene Haftungsängste und Sicherheitsdenken, aber auch die Unkenntnis der neuen Rechtslage führen dazu, dass Handel, Banken oder VermieterInnen den Betroffenen Verträge verweigern bzw. vorab eine Zustimmung des Erwachsenenvertreters bzw. der Erwachsenenvertreterin verlangen.

„Manchmal wird sogar darauf beharrt, obwohl die Erwachsenenvertretung bereits aufgehoben wurde. Menschen werden aufgrund einer vormaligen medizinischen Diagnose unter den Generalverdacht gestellt, dass sie – auch in Zukunft – nicht entscheidungsfähig sind und müssen sich quasi ‚freibeweisen'“, ärgert sich Marlovits über Diskriminierungen im Alltag.

Freie Wahl des Wohnorts? Oft nicht möglich

Zu den wichtigsten Entscheidungen gehört, wo und mit wem man leben bzw. wohnen möchte. Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention deklariert die freie Wahl des Wohn- und Aufenthaltsorts auch für Menschen mit Behinderungen. Das Erwachsenenschutzgesetz sieht sogar ein spezielles Clearing und ein Gerichtsverfahren vor, falls ein/e ErwachsenenvertreterIn den Wohnort gegen den Willen der vertretenen Person ändern möchte. Oft geht es dabei um den Umzug in ein Pflegeheim.

Das Recht auf die freie Wohnortwahl bringt aber nichts, wenn die dringend benötigten Unterstützungsleistungen, wie etwa mobile Dienste, fehlen, die ein selbstbestimmtes Leben zuhause überhaupt ermöglichen würden. Derzeit werden pflegebedürftige Menschen mit Mindesteinkommen oder einer durchschnittlichen Alterspension systematisch von der freien Wahl des Wohnorts ausgeschlossen, wenn sie keine Ersparnisse haben. Denn eine Pflege zuhause ist ohne Rücklagen für die meisten Betroffenen finanziell nicht machbar, sogar wenn Angehörige sie übernehmen: Viele Bundesländer rechnen das Pflegegeld sogar als Einkommen der Angehörigen und ziehen diese finanzielle Unterstützung vom Sozialhilfeanspruch ab.

Persönliche Assistenz ist kein „nice to have“

„Wir fordern nachdrücklich einen Rechtsanspruch auf persönliche Assistenz, und zwar unabhängig von der Art der Beeinträchtigung“, so Marlovits. Derzeit ist persönliche Assistenz nur für Menschen mit körperlichen Behinderungen zugänglich, nicht jedoch aufgrund einer psychischen Erkrankung oder intellektuellen Beeinträchtigung.

„Der Zugang zu persönlicher Assistenz ist ein Kernelement der UN-BRK, da es Menschen erst ermöglicht, ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten. Die Entscheidung, welche Leistungen in Anspruch genommen werden, muss bei der betroffenen Person selbst liegen, da sie ihre Bedürfnisse am besten kennt“, betont Marlovits.

Die Bereitstellung von persönlicher Assistenz durch die Bundesländer und Gemeinden ist nichts, was „nach Maßgabe der finanziellen Ressourcen“ erfolgen kann. Vielmehr hat sich Österreich durch die Ratifikation der UN-BRK dazu verpflichtet, wie Marlovits betont. „Es handelt sich also um eine Pflicht des Staates und kein ‚nice to have‘, sofern man die Rechte von Menschen mit Behinderungen tatsächlich ernst nimmt“.

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