Selektion als Wurzel der Barbarei

Die Presse: Die neue Diskussion um die Abtreibung geht am heikelsten Punkt vorbei. (Gastkommentar von Miriam Kapp)

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Der Kommentar ist in „Die Presse“ erschienen:

Ich bin Mutter einer 33jährigen, schwer mehrfachbehinderten Tochter, die mehr als 40 Wochenstunden Pflege benötigt. Erst im Alter von 30 Jahren ist sie von zu Hause in eine eigene Wohngruppe übersiedelt. Die folgenden Ein- und Ansichten sind demnach keineswegs Theorie. Sie sind gewachsen in glücklicher Erfahrung mit Nachbarn, in fruchtbarer Zusammenarbeit mit wohlwollenden Menschen in Vereinen und Verbänden und vor allem aber im fröhlichen Beisammensein mit unserer Tochter.

Der damalige deutsche Bundespräsident Herzog erinnerte in seiner Ansprache anläßlich des 50. Jahrestages des Novemberpogroms daran, daß die Vernichtung behinderter Menschen den Anfang des nationalsozialistischen Wahns bildete und beschrieb die von Menschen betriebene Selektion als „Wurzel der Barbarei“.

Diese Wurzel der Barbarei findet sich – das muß man nüchtern zur Kenntnis nehmen – auch im 97 unseres Strafrechts: die Abtreibung eines Kindes ist heute in Österreich bis unmittelbar vor der Geburt gestattet, wenn „eine ernste Gefahr besteht, daß das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde“. Unser Vorwissen um eine mögliche Behinderung führt hier zu der Unfähigkeit oder zum Unwillen, Menschen in all ihrer Vielfalt zu akzeptieren. Unser Wertsystem wird hier in sein Gegenteil verkehrt.

Angesichts dieser Realität des 97 StGB ist eine Änderungen im Gesetzestext dringendst geboten. Wenn sich Maria Rauch-Kallat, Generalsekretärin der ÖVP, in diesem Zusammenhang an die „Hitlerideologie“ erinnert fühlt und die Grüne Abgeordnete Theresia Haidlmayr von „menschenverachtender Auslese“ spricht, sind das starke Äußerungen. Doch diese Stimmen verhallen ungehört im Getöse einer in überkommenen Klischees und schrillen Vorurteilen geführten Fristenlösungsdebatte.

Der Punkt ist jedoch heute ein anderer: Abseits der allgemeinen Fristenlösung und unbeschadet der medizinischen Indikation darf es nicht zulässig sein, einen Menschen – welcher Ausprägung auch immer – in den letzten Stunden vor seiner Geburt zu vernichten. Es geht darum, die Selektion menschlichen Lebens zu unterbinden. Eine werdende Mutter, die in einem Gewissenskonflikt steht, muß sicher sein dürfen, daß ihr Kind als Mensch sowohl von ihrem Partner, wie auch und von der Gesellschaft angenommen, keinesfalls aber abgelehnt wird. Gefordert ist also der Ausbau der Beratung ebenso, wie eine bedarfsgerechte finanzielle Unterstützung.

Auch das bedeutet Freiheit für die Frau. Fortschritte der Gentechnik machen vieles denkbar und diagnostizierbar: das Krebs-Gen, das Fettsucht-Gen, das Homosexuellen-Gen. Wären die genetischen Anlagen, die die psychische Krankheit des niederländischen Malers van Gogh, den geistigen Verfall des deutschen SPD-Politikers Wehner oder der Muskelschwund des englischen Physikers Hawking verursachten, erkennbar gewesen, hätten sie abgetrieben werden können? Wollen wir wirklich eine solche geistige und soziale Verarmung?

Wollen wir wirklich – frage ich mich – eine Gesellschaft ohne Menschen wie meine Tochter, die zwar kein van Gogh ist, aber dennoch glücklich ist und auch andere glücklich macht? Diese Fragen betreffen uns alle und eine ehrliche Diskussion darüber ist längst überfällig. Wie Herzog in der oben erwähnten Rede sagte: „Wenn irgendwo unterschieden, klassifiziert und selektiert wird, kann niemand sicher sein, daß er nicht eines Tages selbst zu den Ausgesonderten gehört.“

Die neue Diskussion um die Abtreibung geht am heikelsten Punkt vorbei.

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