Die am 20. Dezember 2022 im ZDF ausgestrahlte Sendung "Die Anstalt“ zum Thema Inklusion hat von vielen Aktiven aus der Behindertenbewegung großen Applaus bekommen.
Auch Dr. Sigrid Arnade, die neue Vorsitzende des Sprecher*innenrats des Deutschen Behindertenrats (DBR) hat die im ZDF ausgestrahlte Sendung „Die Anstalt“ nicht kalt gelassen.
kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul führte daher mit ihr ein entsprechendes Interview über die Sendung und vor allem über die verbreiteten Botschaften in Sachen schulische Inklusion und Werkstätten für behinderte Menschen.
kobinet-nachrichten: Frau Arnade, Sie sind die derzeitige Vorsitzende des Sprecher*innenrates des Deutschen Behindertenrats (DBR) und schon lange eine ausgewiesene Expertin zum Thema Inklusion. Schließlich haben Sie die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auf Seiten der Zivilgesellschaft in New York mitverhandelt. Was halten Sie von der aktuellen Folge der Sendung „Die Anstalt“ zum Thema Inklusion?
Dr. Sigrid Arnade: Die Sendung habe ich leider erst mit einiger Verspätung in der Mediathek gesehen, weil ich zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung am 20. Dezember noch in Australien weilte. Als ich sie dann am 23. Dezember verfolgte, war ich aber einfach nur begeistert, und mein Jetlag war augenblicklich verflogen.
kobinet-nachrichten: Was genau hat Sie begeistert?
Dr. Sigrid Arnade: Beide Themen, die schwerpunktmäßig behandelt wurden – Werkstätten für behinderte Menschen und schulische Inklusion – sind sehr komplex. Ich war beeindruckt von der Präzision der Faktenrecherche sowie dem Kunststück, diese vielschichtigen Themen in nur 48 Minuten verständlich und gleichzeitig unterhaltsam darzustellen und dabei sogar noch die eigentlichen Probleme zu verdeutlichen: Weder von den Werkstätten noch von den Sonderschulen profitieren behinderte Menschen.
kobinet-nachrichten: Sie sind derzeit Vorsitzende des DBR-Sprecher*innenrates. Ist das auch die Ansicht des Deutschen Behindertenrats?
Dr. Sigrid Arnade: Bislang ist das keine offizielle DBR-Meinung, sondern meine Privatansicht, denn wir hatten aufgrund der Feiertage noch keine Gelegenheit, uns im DBR dazu abzustimmen. Da jedoch die Zivilgesellschaft die Probleme im letzten Parallelbericht für die Prüfung Deutschlands vor dem UN-Fachausschuss 2015 ähnlich skizziert hat, gehe ich davon aus, dass der gesamte DBR ähnlicher Auffassung sein wird. Wir werden das Thema Anfang 2023 diskutieren.
kobinet-nachrichten: Zurück zu Ihrer Begeisterung: Was war für Sie das Highlight der Sendung?
Dr. Sigrid Arnade: Drei Highlights möchte ich nennen: Besonders großartig fand ich erstens, dass so eine renommierte Sendung wie „Die Anstalt“ sich mit dem Thema der Inklusion beschäftigt und dabei auch behinderte Menschen als Darsteller*innen einbezieht. Ich hoffe, dass das Schule macht und beispielsweise auch Politikmagazine sich vermehrt kritisch mit behindertenpolitischen Themen beschäftigen. Im diesem ablaufenden Jahr habe ich das schmerzlich vermisst, als der Bundestag mit den Regelungen im Falle einer Triage das erste Selektionsgesetz seit 1945 verabschiedet hat.
Zum Zweiten fand ich in der Anstaltssendung den Übergang von einer anfänglichen Spendengala für die vermeintlich leidenden behinderten Menschen in der Vorweihnachtszeit zu einer menschenrechtsorientierten Aufklärungsveranstaltung sehr gelungen. Das spiegelt den Perspektivwechsel der vergangenen Jahrzehnte in der Behindertenpolitik wider: Durch die UN-Behindertenrechtskonvention wurden wir von Sorgenkindern zu Träger*innen unveräußerlicher Menschenrechte.
kobinet-nachrichten: Und das dritte Highlight?
Dr. Sigrid Arnade: Das dritte Highlight umfasst wiederum drei Aspekte: Super fand ich, mit welcher Leichtigkeit die Ausbeutung sowohl behinderter Beschäftigter als auch der Steuerzahler*innen durch das Werkstattsystem verdeutlicht wurde. Auch der lässig eingestreute Begriff der Apartheit im Zusammenhang mit schulischer Inklusion ließ mich freudig erschauern. Zudem wurde zu meiner großen Genugtuung selbst die besondere Benachteiligung behinderter Frauen in einem Halbsatz benannt.
kobinet-nachrichten: Sie sind als kritischer Geist bekannt. Haben wir uns darin bei so viel Positivem über die Sendung geirrt?
Dr. Sigrid Arnade: Nein, ich habe auch einen Kritikpunkt, zumindest ein Fragezeichen: Zum Schluss ging es um die Frage, wer schuld daran ist, dass Inklusion, konkret schulische Inklusion, nicht gelingt. Dafür verantwortlich gemacht wurden letztlich die Eltern nicht behinderter Kinder und weitere Wähler*innen. Das stimmt meiner Meinung nach so nicht ganz, denn wenn Inklusion gut realisiert wird, profitieren alle davon, auch hochbegabte Schüler*innen mit und ohne Behinderung. Und dann ist es den Eltern egal, dass in der Klasse ihres „Malte-Sokrates“ auch behinderte Kinder lernen.
Aber trotz dieses Kritikpunkts: Es war eine tolle Sendung, die ich jeder und jedem nur empfehlen kann!
Günther Ertl
03.01.2023, 08:25
Das war nicht nur eine gelungene sondern auch eine erschreckende Sendung – ich musste bis zum Ende dabeibleiben.
Wenn das alles stimmt, müssen sich unsere deutschen Nachbarn gehörig bei der Nase nehmen.
Sehr mutig diese Aussagen zum Jahreswechsel zu senden – habe den Beitrag vom Anfang an gesehen und musste bis zum Ende dabeibleiben…
Wenn solch eine Sendung über österreichische Verhältnisse gedreht worden wäre, hätte das auch so ausgesehen?
Martin Ladstätter
03.01.2023, 10:18
Die Sendung war sehr gut. Bei uns in Österreich gibt es ein nicht ganz vergleichbares System. Hier bekommen teilweise für Arbeit 26.000 Menschen nur Taschengeld. Wir haben schon sehr häufig darüber berichtet und es gibt schon seit langem – und wiederholt vorgebracht – die Forderung: „Lohn statt Taschengeld“. Ist auch Teil des Regierungsprogramms („Menschen mit Behinderung, die in Einrichtungen wie Tageswerkstätten arbeiten, müssen in Zukunft Lohn statt Taschengeld bekommen.“). Aber bisher nicht umgesetzt.