Sitzend im Leben stehen

Ich bin seit meinem 15. Lebensjahr auf einen Rollstuhl angewiesen und berichte über die Mobilität von Rollstuhlfahrer:innen, aber auch über Hindernisse im Alltag und Barrierefreiheit in Österreich.

Carton - Frau im Rollstuhl unterwegs
Samantha Tobisch

Ich bin seit mittlerweile 20 Jahren aufgrund eines Unfalls, welcher Verletzungen am Rückenmark verursacht hat und dadurch eine komplette Querschnittlähmung zur Folge hatte, auf einen Rollstuhl angewiesen. Seitdem stehe ich nicht im Leben. Ich sitze.

Da mich meine Füße nicht mehr tragen möchten, ersetzt der Rollstuhl meine Beine. Er ist im Alltag ein Hilfsmittel, um mich fortzubewegen. Ein ständiger, treuer Begleiter, der es mir ermöglicht, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.

Der Rollstuhl ermöglicht mir Mobilität und Freiheit, denn ohne ihn müsste ich zu Hause herumliegen oder am Boden herum robben, was keine allzu erstrebenswerte Alternative darstellt.

Nach einem Unfall und der Diagnose einer kompletten Querschnittlähmung, lernt man den eigenen Körper mit seinen Einschränkungen ganz neu kennen und mit ihm umzugehen. Man muss während der Reha, die nach dem Krankenhausaufenthalt folgt, etliches neu erlernen: angefangen von sich im Bett von einer Seite auf die andere zu drehen, sich aufzusetzen über den Transfer vom Bett in den Rollstuhl und retour bis hin zum Fahren und dem richtigen Umgang mit dem Rollstuhl. 

Das oberste Ziel ist, mit Hilfe des Pflegepersonals und Therapeut:innen, so selbstständig wie möglich zu werden, um in das gesellschaftliche Leben und seinen Alltag zurückkehren zu können.

Querschnittlähmung ist keine Krankheit, sondern ein Ist-Zustand, den man nicht ändern kann.

Schon während der Reha und besonders später im Alltag lernt man sehr bald, lösungsorientiert zu denken. Zum Beispiel mit den verschiedensten Hilfsmitteln und Behelfen, die nicht mehr vorhandenen körperlichen Funktionen auszugleichen.

Querschnittlähmung ist keine Krankheit, sondern ein Ist-Zustand, den man nicht ändern kann. Unfälle und Schicksalsschläge passieren. Wir haben nur dieses eine Leben, deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als diesen Ist-Zustand zu akzeptieren, das Leben zu leben und das Beste daraus zu machen.

Selbstbestimmt leben 

Oberste Priorität für uns Rohlstuhlfahrer:innen ist, ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen und ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein – ohne Mitleid, ohne Barrieren. Dank Reha-Technik und Digitalisierung, die sich stets weiter entwickelt, ist das immer mehr möglich. Es gibt in der Zwischenzeit verschiedenste Modelle von Rollstühlen.

Man hat die Auswahl zwischen unterschiedlichen Marken, starren und faltbaren Rahmen, Karbon oder Metall, elektrounterstützte Räder als Antrieb, Elektrorollstühle mit Joystick oder Kopfsteuerung. So soll für jede:n Einzelne:n das bestmögliche Fahren und Fortbewegen gewährleistet werden.

Es gibt Handbikes, quasi Fahrräder für Rollstuhlfahrer:innen und als neuesten Trend Zuggeräte – das sind elektrische Räder, die man direkt an den Rollstuhl montieren kann. Mit den Handbikes und Zuggeräten kann man im Alltag kleinere Barrieren überwinden, angefangen von Gehsteigkanten, bis hin zu Pflastersteinen, Unebenheiten usw. Diese Hilfsmittel ermöglichen zusätzlich, zum Beispiel bei Fahrradtouren mit Freunden und Familie, mitzufahren, sich im Gelände zu bewegen oder teilweise auch Wanderungen mitzumachen.

Für weitere Strecken ermöglicht das Auto, wie für jede:n andere:n auch, eine weiterreichende Mobilität. Wenn man die Füße nicht mehr einsetzen kann, gibt es die Möglichkeit, das Auto dementsprechend umbauen zu lassen. Auch hier gibt es verschiedenste Möglichkeiten der Umsetzung: das Auto kann beispielsweise mit einem Gasring am Lenkrad oder einem Gas-Bremshebel ausgestattet werden. Auf diese Weise wird ein Steuern des Fahrzeuges nur mit den Händen ermöglicht.

Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, sich fortzubewegen und mobil zu sein. Urlaube, Reisen ins Ausland und Wochenendausflüge mit öffentlichen Verkehrsmitteln stellen für Menschen mit einer Einschränkung keine Ausnahme dar. Es erfordert teilweise etwas mehr Organisation, da man als Rollstuhlfahrer:in für Zug und Flugzeug ein Mobilitätsservice anfordern muss, um in das Verkehrsmittel einsteigen zu können. (Mehr zum Thema Mobilität, Barrierefreiheit und Reisen im Rollstuhl erfahrt ihr im Podcast: https://www.podbean.com/ew/pb-urqdf-10b6f6a)

Zusammengefasst: Menschen mit einer physischen Einschränkung sind äußerst kreativ, wenn es darum geht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Was uns aber behindert, ist leider oft die Gesellschaft und Barrieren im Alltag, die wir bei allem Einfallsreichtum ohne Hilfe nicht überwinden können. Dazu gehören für uns RollstuhlfahrerInnen zum Beispiel zu hohe Gehsteigkanten, Stufen, Gebäude ohne Lift, das Nichtvorhandensein barrierefreier WCs oder zu steile Rampen. Sobald bei einem Geschäft oder Lokal auch nur eine einzige Stufe vorzufinden ist, ist es nicht barrierefrei.

Gesetz vs. Realität 

In Österreich gibt es ein Behindertengleichstellungsgesetz, dessen Ziel es ist, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen bzw. zu verhindern. Damit soll die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft gewährleistet und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglicht werden.

Nach dem Behindertengleichstellungsrecht müssen Güter und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, diskriminierungsfrei – also auch ohne Barrieren – angeboten werden. Dies umfasst im Wesentlichen Verbrauchergeschäfte.

Darunter versteht man beispielsweise tägliche Einkäufe, Urlaubsreisen, Kinobesuche, Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder Besuche in Restaurants und Gasthäusern. Aber auch der Arztbesuch oder die Teilnahme an einem Volkshochschulkurs zählen dazu. Auch im beruflichen Bereich muss Barrierefreiheit herrschen. Zudem müssen laut Gesetz Neubauten den Standards der Barrierefreiheit entsprechen. Bei älteren Gebäuden gilt: wird renoviert, müssen bestehende Barrieren beseitigt werden.

Das Problem ist jedoch, dass es bei dem Bundesgesetz Grauzonen und Hintertüren gibt. Verstößt beispielsweise ein Lokal gegen die Auflagen, kann man nicht direkt dagegen vorgehen und klagen, sondern muss erst ein Schlichtungsverfahren beantragen, bei dem versucht wird, mit beiden Parteien eine Lösung des Problems zu finden.

Geklagt kann erst dann werden, wenn die beschuldigte Person nicht bei einem etwaigen Schlichtungsverfahren erscheint oder wenn keine Einigung erzielt wird. Dies geschieht allerdings auch erst nach einer weiteren Frist von drei Monaten. Im Gerichtsverfahren wird überprüft, ob die Beseitigung einer Barriere und damit die Herstellung der Barrierefreiheit zumutbar ist. Dies dient der Vermeidung wirtschaftlicher Härtefälle.

Sprich, übersteigen die Kosten für die Beseitigung der Barriere die Einnahmen des Lokals, muss das Lokal nicht umbauen. Die Zumutbarkeit für Menschen mit einer Mobilitätseinschränkung wird hierbei komplett außer Acht gelassen.

Diese vielen Grauzonen im Gleichstellungsgesetz, die sehr geringen Strafen, die im Falle eines Verstoßes zu bezahlen sind und die Umständlichkeit des Verfahrens führen dazu, dass es das Gesetz zwar theoretisch in Österreich gibt, es aber praktisch kaum umgesetzt wird. Dies führt dazu, dass weit über 60 Prozent der Gebäude, Lokale und Geschäfte in Österreich nicht barrierefrei sind und es auch in anderen Bereichen immer wieder zu Diskriminierungen kommt.

Obwohl es in Österreich ein Behinderteneinstellungsgesetz gibt und Dienstgeber:innen ab einer gewissen Mitarbeiter:innenanzahl verpflichtet sind, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen, ist es für diese aber heutzutage immer noch nicht einfach, eine Zusage für einen Arbeitsplatz zu erhalten und vor allem diesen Job dann auch zu behalten.

Eine der Ursachen dafür ist, dass die Gesetze auch hier nicht klar und deutlich genug formuliert sind. Es gibt in den Unterpunkten der Paragraphen immer wieder Ausweichmöglichkeiten, welche den Arbeitgeber:innen die Option offen lassen, einen Strafbetrag zu bezahlen, anstatt jemanden mit einer Behinderung einzustellen. Weder der Bund noch die Länder erfüllen die gesetzlich vorgeschriebene Beschäftigungspflicht.

Akzeptieren und akzeptiert werden

Für mich und andere Menschen mit einer körperlichen Behinderung wird die Einschränkung nach einiger Zeit zur Normalität. Das „Warum“ tritt in den Hintergrund, man konzentriert sich auf das Hier und Jetzt, auf seine Zukunft. Ich warte auf keinen Tag X, an dem irgendein „Heilmittel“ gefunden wird, das ich nicht benötige, weil ich nicht krank bin und es für mich in Ordnung ist, dass die Dinge so sind, wie sie nun mal sind.

Außerdem würde ein „Heilmittel“ nach 20 Jahren mehr Schaden und Schmerzen verursachen als Nutzen. Ich habe eine Wohnung, in der ich allein leben kann. Ich habe momentan sogar zwei Jobs, ich habe eine großartige Familie und Freunde, für die ich sehr dankbar bin und die mein Fels in der Brandung sind und mit denen ich meine Freizeit verbringe.

Ich führe ein Leben, wie viele andere auch. Daran, dass ich aus Sicht der Mehrheit der Gesellschaft nicht der „gesellschaftlichen Norm“ entspreche und Teil einer Randgruppe bin, erinnern mich immer wieder „Nicht-Betroffene“ mit Blicken, ihrem Mitleid und mit Aussagen wie „Na, wie furchtbar, so jung und schon Behindert“.

Wenn mich wildfremde Menschen auf der Straße ansprechen und mich fragen, warum ich im Rollstuhl sitze, wird mir klar, dass sie mich nicht als Mensch sehen, sondern mich auf den Rollstuhl reduzieren und für sich eine Erklärung suchen, warum ich „anders“ bin als sie. Ich bin der Meinung, ich trage zur Vielfalt der Gesellschaft bei. Ich habe kein Problem damit über meinen Unfall zu sprechen, wenn es sich in einem Gespräch ergibt. Aber nicht mit Leuten, die mehr Interesse an meinem Rollstuhl, als an mir als Mensch haben.

Es ist willkommen uns Hilfe anzubieten, wenn es offensichtlich ist, dass wir diese benötigen, also bei zu steilen Rampen, Stufen etc. Ein absolutes No-Go ist einfach hinzugreifen und anzuschieben ohne zu Fragen. Damit kann man mehr Schaden anrichten als Nutzen.

Für mich als Betroffene ist es extrem mühsam, tagtäglich mit Barrieren konfrontiert zu werden. Leider steht es auf meiner Tagesordnung, um Hilfe bitten zu müssen beziehungsweise auf selbige angewiesen zu sein – zum Beispiel, wenn ich mit Freunden etwas trinken gehen möchte und erstmal über Stufen getragen werden muss.

Natürlich helfen im Fall der Fälle die Personen, die einen begleiten oder „fremde“ Leute vor Ort über gewisse Barrieren hinweg. Der Punkt ist aber, dass wir keine Belastung und auf so wenig Hilfe wie möglich angewiesen sein wollen. In erster Linie für uns selbst, aber auch für unsere Partner:innen, Familie oder Freunde. 

Es ist äußerst frustrierend dafür zu kämpfen, seine Selbstständigkeit wieder zu erlangen und dann in der Realität immer wieder mit unüberwindbaren Hindernissen konfrontiert zu werden, gegen die wir machtlos sind. Ich kann hier nur für die Hindernisse und Bedürfnisse für uns Rollstuhlfahrer:innen sprechen. Die Barrieren für Menschen mit anderen Behinderungen kommen noch hinzu.

Insgesamt zählen ca. 40% der Bevölkerung – in der einen oder anderen Form – zur Gruppe der mobilitätseingeschränkten Personen.

„Barriere“ im Zusammenhang mit dem Thema Behinderung ist ein Hindernis, das Menschen in ihren alltäglichen Möglichkeiten einschränkt oder behindert. Das kann bauliche Barrieren, Verkehrsbarrieren, Barrieren im Bereich der Kommunikation und/oder in der Informations- und Kommunikationstechnologie betreffen.

Mangelnde Barrierefreiheit betrifft aber nicht nur diese 40 % der Bevölkerung. Barrieren schränken auch unsere Familien, Angehörigen und Freunde ein. Es gilt auch zu bedenken, dass es jede:n früher oder später betreffen kann. Sei es durch einen Unfall, eine Krankheit oder schlicht durch das Älterwerden und die damit einhergehende Verminderung von körperlicher Fitness. Barrierefreiheit hat für niemanden einen Nachteil, im Gegenteil, es gewinnen alle dadurch.

Es sollte daher im Interesse aller liegen, unsere Lebensräume barrierefrei zu gestalten, um so ein gemeinsames Miteinander mit denselben Möglichkeiten für alle zu gewährleisten.

Dieser Beitrag ist zuerst in period.at erschienen.

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3 Kommentare

  • Hervorragender Artikel. Wirklich. Und die Videos auch.

  • Werde demnächst das erste Taxi mit Rollstuhlrampe in Wien anmelden und würde mich um Unterstützung freuen. Was ich da noch genau plane bzw. im Kopf habe, können wir ja gerne einmal persönlich besprechen……

    • Super! Bitte geben Sie uns Bescheid, wenn es soweit ist. Als Beratungszentrum bekommen wir immer wieder anfragen danach!
      LG
      C.S.