Staatenprüfung ist gute Gelegenheit für Zivilgesellschaft, Kritik zu üben

Prof. Dr. Theresia Degener hat vor einigen Jahren als langjähriges Mitglied des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen und spätere Vorsitzende dieses Ausschusses einige Staatenprüfungsverfahren mitgestaltet.

Theresia Degener
KSL Amsberg

Welche Erfahrungen Theresia Degener daraus gewonnen hat und was die renommierte Juristin und Menschenrechtlerin von der Staatenprüfung Deutschlands am 29. und 30. August 2023 durch den Ausschuss erwartet, dazu führte kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul ein Interview mit ihr.

Zusammen mit ihrer Kollegin Franziska Witzmann und fünfzehn Studierenden wird sie die Anhörung vor Ort in Genf verfolgen und dort sicherlich auch viele Gespräche über die Situation in Deutschland führen. Die Staatenprüfung ist ihrer Meinung nach auch eine gute Gelegenheit für die Zivilgesellschaft, Kritik zu üben.

kobinet-nachrichten: Am 29. und 30. August 2023 müssen die Vertreter*innen Deutschlands im Hinblick auf ihre Aktivitäten zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vor dem Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen in Genf Rede und Antwort stehen. Sie haben vor einigen Jahren als langjähriges Mitglied des Ausschusses und spätere Vorsitzende einige Staatenprüfungsverfahren mitgestaltet. Welche Erfahrungen haben Sie daraus gewonnen?

Prof. Dr. Theresia Degener: Meine Erfahrung ist, dass die Verfahren sehr nützlich sind, denn viele Staaten nehmen das Verfahren ernst, es ist wichtig für ihre Reputation auf der internationalen Bühne und als Mitglied der Vereinten Nationen. Für die Zivilgesellschaft ist es eine wichtige Gelegenheit, Kritik anzumelden und sich als watchdog zu betätigen.

Das geht nicht immer offen und transparent. In totalitären Staaten kann die Zivilgesellschaft nur verdeckt operieren. Uns wurden damals mehrfach geheime Beweise zugespielt, die wir im Dialog mit den Staaten verwenden konnten. Aber die Informant*innen mussten gut geschützt werden.

kobinet-nachrichten: An der ersten Staatenprüfung Deutschlands durften Sie nicht aktiv mitwirken, weil Sie selbst aus Deutschland kommen. Wie war das damals für Sie, die Staatenprüfung des eigenen Landes in Sachen UN-Behindertenrechtskonvention mitzuerleben?

Prof. Dr. Theresia Degener: Das war sehr aufregend. Ich saß in einem anderen Raum und verfolgte das Verfahren über den Lifestream. Ich war sehr stolz auf mein Heimatland, das eine so große hochrangige Delegation schickte und offensichtlich auch eine große Anzahl von Mitgliedern der Zivilgesellschaft unterstützt hatte, nach Genf zu fahren.

Gleichzeitig habe ich mich für die Inhalte des Staatenberichts geschämt: zu viel Selbstlob und zu wenig Selbstreflektion. Das können andere Staaten besser.

kobinet-nachrichten: Was kann man Ihrer Meinung nach von der nun am 29. und 30. August 2023 anstehenden Staatenprüfung Deutschlands erwarten?

Prof. Dr. Theresia Degener: Ich denke, dass Deutschland wegen der Reformen im Betreuungsrecht, wegen der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes und anderer Maßnahmen Lob erwarten darf.

Aber die exorbitant hohe Exklusionsrate im Bildungswesen, die mangelhafte Deinstutionalisierung, insbesondere für behinderte Menschen mit komplexen bzw. intellektuellen Beeinträchtigungen und die Fortführung von Zwangsmaßnahmen in Psychiatrie und Behinderten- und Pflegeeinrichtungen wird wohl wieder zu recht kritisiert werden. Da kann man eigentlich nur Schelte erwarten.

kobinet-nachrichten: Welche Themen sind für Sie besonders wichtig, bei denen es in Deutschland erheblichen Handlungsbedarf gibt?

Prof. Dr. Theresia Degener: Ich hoffe sehr, dass der Ausschuss auch eine Individualbeschwerde entscheidet, die anhängig ist.

Da geht es um eine behinderte Jugendliche, deren alleinerziehenden Mutter das Sorgerecht teilweise entzogen wurde, weil sie sich konsequent für die Inklusion ihrer Tochter in die Regelschule eingesetzt hat. Jugendamt und Schulbehörden ging das zu weit und erklärten das Verhalten der Mutter zur Kindeswohlgefährdung. Das Jugendamt wurde zum Vormund bestellt und schickte das Mädchen gegen ihren Willen auf die Sonderschule.

Das Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS) hat die Individualbeschwerde zusammen mit anderen unterstützt. Auch zwei Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen (Bildung & Behinderte Menschen) äußerten Bedenken, dass die UN BRK und andere Menschenrechtskonventionen verletzt wurden.

Jetzt warten wir dringend auf klarstellende Worte aus Genf, dass inklusive Bildung ein Menschenrecht ist, welches nicht über Kindeswohlgefährdung ausgehebelt werden darf. Den Jurist*innen, die diesen Fall zusammen mit der Kanzlei Latham & Watkins federführend betreuen sind inzwischen weitere Fälle bekannt geworden. Das heißt, es gibt den begründeten Verdacht, dass es sich hier nicht um einen Einzelfall handelt.

Es scheint sich eine neue Strategie von Schulbehörden und Jugendämtern zu entwickeln, unliebsamen Eltern, die für die Inklusionsrechte ihrer behinderten Kinder kämpfen, mit der Drohung des Sorgerechtsentzugs zu disziplinieren. Rechtsstaatlich ist diese Entwicklung äußerst bedenklich, und ich hoffe sehr, dass der UN-BRK Ausschuss hier deutliche Worte findet.

kobinet-nachrichten: Wie werden Sie die Staatenprüfung Deutschlands verfolgen?

Prof. Dr. Theresia Degener: Ich werde zusammen mit meiner Kollegin Franziska Witzmann und fünfzehn Studierenden an der Anhörung vor Ort in Genf teilnehmen. Die Studierenden der Heilpädagogik / Inklusiven Pädagogik müssen an unserer Evangelischen Hochschule RWL in Bochum ja eine Rechtsklausur schreiben, die sich immer auf die UN-BRK bezieht.

Eine Lehrveranstaltung des Moduls Recht beschäftigt sich nur mit der UN-BRK. Das heißt, letztes Semester haben wir diese Staatenanhörung intensiv vorbereitet und in einem Planspiel bereits selbst durchgeführt. Die Studierenden haben sich durch hunderte Seiten Staatenbericht und Alternativberichte durchgearbeitet und dann selbst die Bundesregierung bzw. den UN-BRK Ausschuss gespielt.

Am Ende des Semesters gab es dann noch eine harte Rechtsklausur. Jetzt kommt für Einige die Belohnung in Genf: die leibhaftige Teilnahme an der Staatenanhörung. Ich sage meinen Studierenden immer, dass sie vermutlich die einzigen Studierenden in Deutschland sind, die so gut in der UN-BRK ausgebildet werden.

Denn es kommt am Ende des Tages ja darauf an, dass die Professionellen in der Behindertenarbeit die UN-BRK verstanden haben und auch eine Haltung zu ihr entwickelt haben.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.

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Ein Kommentar

  • Zu den institutionellen Einrichtungen gehören auch die segregierenden Einrichtungen der Wohlfahrtsindustrie die mit überhöhten Tagessätzen den Sozialstaat überlastet!
    Betreiber von diesen Einrichtungen fordern immer mehr Geld mit dem Argument, dass sonst die Qualität der Betreuung nicht gewährleistet werden kann.
    Die fixen und pauschalierten Betreuungssätze pro Tag für die Betreiber der Einrichtungen liegen jenseits der 200 Euro Grenze!
    Für die Betreuung zu Hause bleibt es nur bei dem bewilligten Pflegegeld!
    Aus diesem Grund haben die Betreiber kein Interesse das derzeitige System mit Sachleistungen grundlegend zu ändern !
    Die Wohlfahrtsindustrie ist noch immer für die Abschaffung des #Pflegegeldes und für die Finanzierung von #Sachleistungen über ihre gewinnbringenden „sozialen Unternehmen“!
    Den Lobbyisten dieser Unternehmen dürfen wir niemals glauben, wenn sie behaupten, dass sie sich für die #Inklusion von Menschen mit Behinderung einsetzen!