Aus der Serie: "Wo versagt das Behindertengleichstellungsgesetz? Wie kann es verbessert werden?"
Warum das Behindertengleichstellungsgesetz in vielen Bereichen versagt, analysieren für unsere Artikelserie Martin Ladstätter und Andrea Ludwig.
Ein Oberösterreicher kauft eine barrierefreie Wohnung, in die er nach der Schlüsselübergabe nicht einziehen kann, weil sich die Haustüre vom Rollstuhl aus nicht öffnen lässt.
Aber auch der Keller und die Garage sind für den 30-jährigen nicht zugänglich: Ein Lift ist zwar da, auf die notwendigen Freiflächen zum Zu- und Abfahren wurde beim Einbau aber verzichtet. Über diesen Fall hat der Klagsverband im April 2014 berichtet.
BGStG sieht nur Schadenersatz vor
Seit dem Inkrafttreten des Bundes-Behindertengleichstellungsgesetzes (BGStG) 2006 kann wegen fehlender Barrierefreiheit ein Zivilrechtsverfahren geführt werden. Diesen Weg hat nach einer gescheiterten Schlichtung auch der oberösterreichische Rollstuhlfahrer gewählt. Mit dem Ergebnis des Verfahrens war er nicht zufrieden: Er hat zwar im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs mit dem Bauträger 2.000 Euro bekommen. An der Situation in dem Haus ändert sich für ihn aber nichts.
Artikelserie soll Mängel des Gesetzes aufzeigen
Für den Klagsverband und BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben Grund genug, im Rahmen einer Artikelserie auf die Defizite des Behindertengleichstellungsgesetzes einzugehen.
In nächster Zeit werden wir anhand weiterer Beispiele aufzeigen, welche Mängel das Behindertengleichstellungsgesetz hat, wenn es darum geht, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an allen Bereichen der Gesellschaft rechtlich durchsetzbar zu machen. Aber auch Vorschläge zur Verbesserung der jetzigen Rechtslage werden nicht fehlen.
Barrierefreiheit einklagen? Das ist ein Mythos!
Doch zurück zum Anfang: Martin Ladstätter ist Obmann von BIZEPS und hat in den letzten 20 Jahren schon viele Menschen beraten, die ähnliche Probleme mit fehlender oder mangelnder Barrierefreiheit hatten, wie der Kläger in dem geschilderten Fall. Deshalb ist dieser für ihn auch ein typisches Beispiel, das aufzeigt, wo das Behindertengleichstellungsgesetz in seiner jetzigen Form für Betroffene nicht funktioniert.
„Es ist ein Mythos, der sich hartnäckig hält, dass durch das Behindertengleichstellungsgesetz Barrierefreiheit einklagbar sei“, empört sich Ladstätter, der auch Vorstandsmitglied beim Klagsverband ist.
„Nur ein Teil der bestehenden Barrieren ist aufgrund von Unzumutbarkeitsprüfungen, Übergangsfristen und dem Vorrang anderer Gesetze überhaupt rechtswidrig und stellt somit eine Diskriminierung aufgrund einer Behinderung dar“, stellt er klar, was das Gesetz Betroffenen derzeit zu bieten hat. „Sogar wenn eine Barriere eine Diskriminierung darstellt, lässt sich die Beseitigung der Barriere nicht einklagen. Stattdessen kann eine Person, die diskriminiert wird, nur auf Schadenersatz klagen“, weiß der Selbstbestimmt Leben Aktivist.
Rechtliche Einschätzung
Andrea Ludwig hat den Oberösterreicher vor Gericht vertreten und teilt die Einschätzung Ladstätters: „So, wie das Behindertengleichstellungsgesetz derzeit gestaltet ist, haben wir es in diesem Zusammenhang mit zwei großen Problembereichen zu tun: Das ist der fehlende Beseitigungsanspruch und die Höhe des Schadenersatzes“, erläutert die Juristin.
Beseitigungsanspruch fehlt im Gesetz
Derzeit sieht das BGStG lediglich einen Anspruch auf Ersatz des Vermögensschadens und auf eine Entschädigung für die erlittene persönliche Beeinträchtig vor, wobei Letztere im Falle von Belästigungen seit 1. März 2011 mindestens 1.000 Euro betragen muss. Personen, die diskriminiert wurden, verfolgen jedoch meistens nicht das Ziel, Schadenersatz zu bekommen, sondern die Diskriminierung zu beseitigen, gerade in Bezug auf Barrieren. Ein solcher Beseitigungsanspruch fehlt im Gesetz.
Eine Klage kann somit nicht zu einer Verbesserung der tatsächlichen Situation für die Einzelperson und anderer Menschen mit Behinderungen beitragen. Das ist sicherlich eines der ausschlaggebenden Kriterien für die bislang geringe Anzahl von Gerichtsverfahren in diesem Bereich. Dabei wäre es weit wirksamer, wenn die diskriminierende Person die Barriere aktiv beseitigt, anstatt einen immateriellen Schadenersatz zu zahlen, führt Ludwig aus.
Kritik an fehlendem Beseitigungsanspruch auch durch Evaluierung bestätigt
Auch die Evaluierung des Bundes-Behindertengleichstellungsgesetzes, die vom Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz in Auftrag gegeben und 2012 veröffentlicht wurde, bestätigt die Kritik am fehlenden Beseitigungsanspruch: „Auch im Hinblick auf die Wirksamkeit der Vorgaben des BGStG und die bestmögliche Verwirklichung der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, wäre die Einräumung eines Erfüllungsanspruches an die Betroffenen durchaus zu befürworten“, heißt es da.
Und weiter: „Vor allem angesichts dessen, dass diskriminierende Bedingungen (auch) für die Zukunft beseitigt werden sollen, stellt ein solcher das effektivere Mittel dar als die ‚bloße‘ Einräumung von Schadenersatzansprüchen. Denn durch diesen wird viel eher – gleichsam ‚generalpräventiv‘ – gewährleistet, dass Menschen mit Behinderungen künftig diskriminierungsfreie Bedingungen vorfinden, da sich der/die Diskriminierende nicht durch Leistung von Schadenersatz ‚freikaufen‘ kann.“
Schadenersatz erschreckend gering
Die Höhe des Schadenersatzanspruches für die erlittene persönliche Beeinträchtigung festzulegen ist in jedem Fall eine Herausforderung, auch wenn das BGStG in 9 Absatz 4 einige Kriterien anführt: „Die Höhe der Entschädigung für die erlittene persönliche Beeinträchtigung ist so zu bemessen, dass dadurch die Beeinträchtigung tatsächlich und wirksam ausgeglichen wird und die Entschädigung der erlittenen Beeinträchtigung angemessen ist sowie Diskriminierungen verhindert. Dabei ist insbesondere auf die Dauer der Diskriminierung, die Schwere des Verschuldens, die Erheblichkeit der Beeinträchtigung und auf Mehrfachdiskriminierungen Bedacht zu nehmen“.
In der Praxis orientieren sich die Gerichte meistens an dem für die Belästigung normierten Mindestschadenersatz. Daran gemessen ist der im Vergleichswege vereinbarte Betrag von 2.000 Euro nicht gering. Die Beeinträchtigung kann damit aber nicht ausgeglichen werden, weil die Barrieren weiter bestehen.
Aus ihrer Erfahrung weiß Andrea Ludwig: „Die 2.000 Euro Schadenersatz wie in diesem Fall werden leider keine weiteren Diskriminierungen verhindern. Schließlich ist der Bauträger der Ansicht, rechtmäßig gehandelt und die geltenden Bestimmungen eingehalten zu haben.“
Evaluierung des BGStG insgesamt wenig aussagekräftig
In der bereits erwähnten Evaluierung des Bundes-Behindertengleichstellungsgesetzes wird die Anhebung des Mindestschadenersatzes nur am Rande angesprochen. Wer sich mit der Evaluierung genauer auseinandersetzen will, findet hier eine geeignete Grundlage.
Probleme betreffen auch Ländergesetze
Zum Schluss weist Andrea Ludwig noch darauf hin, dass diese Probleme nicht nur auf bundesgesetzlicher Ebene bestehen. In den Antidiskriminierungs- und Gleichbehandlungsgesetzen der einzelnen Bundesländer würden sich ähnlich lautende Bestimmungen finden.
In Niederösterreich – als einzigem österreichischen Bundesland – fehle es überhaupt noch an einem Diskriminierungsschutz für Menschen mit Behinderungen außerhalb der Arbeitswelt.