Stellungnahme zur Diskussion zwischen Integration Wien und Helene Jarmer

Ein Vermittlungsversuch

Schulgebäude von außen
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Blicken wir in die Praxis der Integration, so können wir beide Standpunkte verstehen:

Die Integrationsbewegung hat gegen anfänglich sehr viele Widerstände recht große Erfolge erzielt. Das betrifft insbesondere die Bewusstseinsbildung, aber auch viele nunmehr tatsächlich bestehende Förder- und Bildungsangebote. Zu Recht verweist die Integrationsbewegung aber auch auf viele notwendige, aber noch nicht realisierte Schritte in Richtung einer umfassenden Integration (Heute auch vermehrt als „Inklusion“ bezeichnet). Der Stellungnahme von „Integration Wien“ ist diesbezüglich nichts hinzuzufügen.

Helene Jarmer kommt hier sozusagen von der gegenüberliegenden Seite auf dasselbe Thema zu: „Integration nicht um jeden Preis“ signalisiert, dass die Integration gerade für hörbehinderte (schwerhörige und gehörlose Kinder inklusive CI-Kinder) meist sehr unbefriedigend verläuft. Jarmer will eben keine Integration, die zur Folge hat, dass die hörbehinderten Kinder die Schule mit z.T. drastisch reduzierten Berufs- und Lebenschancen verlassen.

Um zwischen den beiden Standpunkten zu vermitteln, schlage ich vor, sich gemeinsam auf die meines Erachtens entscheidende Frage zu konzentrieren: Garantiert die derzeitige Form der Integration allen Kindern eine ihren Fähigkeiten weitgehend entsprechende Bildung? Hier ist die Antwort: jedenfalls nicht für alle Behinderungsformen.

CHEERS-Untersuchung

Wenn wir uns auf die hörbehinderten Kinder konzentrieren, so ist festzustellen, dass die Chancen auf eine angemessene Bildung statistisch in direktem Zusammenhang mit dem Ausmaß der Hörbehinderung abnehmen: Die CHEERS-Untersuchung hat gezeigt, dass mittelgradig schwerhörige Kinder gegen Pflichtschulende einen sprachlichen Entwicklungsrückstand von etwa 2 Jahren aufweisen, hochgradig schwerhörige und gehörlose Kinder sogar einen von bis zu 7 Jahren (dies gilt – an Helene Jarmer gerichtet – übrigens auch für Sonderschulen).

Die Dramatik der Situation ist dann zu verstehen, wenn wir bedenken, dass mit einer altersgemäßen Sprachentwicklung sowohl die allgemeine kognitive und emotionale Entwicklung als auch die gesamte sprachgebundene Bildung eng verbunden sind.

Kritisch ist zu sagen, dass dieser Zusammenhang bis vor Kurzem völlig unterschätzt wurde und z.T. noch wird: Weder Ärzte, noch FrühfördererInnen, KindergärtnerInnen oder LehrerInnen werden in ihrer Ausbildung angemessen darüber aufgeklärt. Der „Erfolg“ dieser Misere ist an den vielen Publikationen und Tagungen zur „psychischen Gesundheit hörbehinderter Menschen“ abzulesen. Wie soll ich auch psychisch gesund sein, wenn mir vom Säuglingsalter weg eine altersgemäße Kommunikationsform verweigert wird?

Auch heute noch wird von etlichen ExpertInnen ein bei hörbehinderten Kindern auftretender sprachlicher Entwicklungsrückstand als quasi naturgesetzliche Folge der Hörbehinderung interpretiert („es ist eben so und da kann man gar nichts machen“). Dabei werden die vielfach gegebenen Fördermöglichkeiten übersehen oder ignoriert.

Fazit

Egal, ob die Sprachförderung (entsprechend dem Elternwillen bzw. der Entscheidung älterer Kinder) rein lautsprachlich oder bilingual (laut- und gebärdensprachlich) erfolgt: Ist sie nicht gut genug, bleibt das Kind zurück. Wäre sie überall gut und ausreichend, müsste jedes hörbehinderte Kind, das keine weitere Behinderung aufweist, am Ende der Schule den gleichen Sprachstand aufweisen wie die hörenden Kinder.

Sprachförderung beginnt praktisch im Säuglingsalter

Ich möchte aber auch die Schule bzw. die LehrerInnen entlasten: Sprachförderung beginnt praktisch im Säuglingsalter, ist jedenfalls mit den bekannten Sprachentwicklungsphasen abzustimmen. D.h., dass eine altersgemäß vollständige Sprachkompetenz schon vor dem Eintritt in die Schule vorhanden sein muss. Wie sollen denn LehrerInnen bei Sechsjährigen eine Sprache aufbauen, die andere Kinder schon mit 4-5 Jahren beherrschen?

Von Seiten der gehörlosen Menschen wird seit vielen Jahren betont, dass eine Integration ihrer Gruppe vor allem eine sprachliche Integration sein muss. Sie betonen den Wert eines bilingualen Angebots. Dieselbe bzw. ähnliche Problematiken in abgeschwächter Form finden wir – ebenfalls kaum beachtet – auch bei lautsprachorientierten schwerhörigen Menschen.

Integration Wien und Helene Jarmer können also gemeinsam fragen, wie es um die sprachliche Integration hörbehinderter Kinder bestellt ist bzw. wann (mit welchem Alter) und wie intensiv die dazu nötige Frühförderung stattfindet. Sie könnten sich in der gemeinsamen Forderung finden, dass – egal in welcher (derzeit noch existierenden) Schulform – hörbehinderte Kinder angemessen gefördert werden.

Zur angemessenen Förderung gehört auch die Möglichkeit, sich in der einen oder den zwei gewählten Sprachen auch tatsächlich mit KlassenkameradInnen und KindergärtnerInnen/LehrerInnen unterhalten zu können. Dazu wären dann Fragen zu stellen, wie z.B. die nach Änderungen in den Ausbildungen für KindergärtnerInnen und Pflicht- bzw. SonderschullehrerInnen.

Integration Wien und Helene Jarmer könnten sich auch darauf einigen, dass ihre Ziele eigentlich gemeinsame sind und dieselben, wie sie eine gute Inklusion hat: die optimal individuell geförderten/gebildeten behinderten Menschen und eine offene Gesellschaft, die sie aufnimmt/akzeptiert.

Und sie sollten gemeinsam die Förder- und Bildungspolitik mit der Forderung konfrontieren, dass bei hörbehinderten Kindern künftig keine schlechteren Leistungen als bei hörenden akzeptiert werden. Das kann nur geschehen, wenn diese Kinder barrierefrei zu den nötigen Lernschritten kommen und wenn Sprache(n) als zentraler Schlüssel dafür angesehen wird.

Identitätsbildung der Kinder

Es ist übrigens ein Problem vieler integrierter behinderter Kinder, dass sie kaum erfahren, dass sie mit ihrer Behinderung nicht allein sind, sondern dass es „Gleiche“ gibt. Warum sonst sind Sommercamps z.B. für sehbehinderte und blinde Kinder so erfolgreich. Dieser Aspekt einer gelungenen Inklusion („ich bin nicht allein“) sollte in allen Altersstufen berücksichtigt werden, weil er die Identitätsbildung der Kinder unterstützt.

Integration Wien und Helene Jarmer könnten sich hier darauf einigen, dass bei einigermaßen Phantasie in der Schulorganisation die ausschließliche Integration am Ort und die ausschließliche Segregation in einer Sonderschule beides überkommene Formen sind, die den gemeinsamen Vorstellungen nicht entsprechen.

Ich hoffe auf weitere fruchtbare Diskussionen.

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