Sterbehilfe: Wie „frei“ kann der Wille eines Menschen sein?

Die Presse: Und ist ein solcher Wille einfach zu respektieren? Wenn wir nicht mehr leben wollen: von Selbstmord, aktiver und passiver Sterbehilfe - Versuch einer Klärung. Denn man stirbt nur einmal

Sterbehilfe
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Der Artikel ist in „Die Presse“ erschienen:

Wie zu erwarten, haben die verbreiteten Vorstöße für die Freigabe der Euthanasie mit der üblichen Verzögerung auf Österreich übergegriffen. Vor einiger Zeit wurde nämlich von Vertretern dieser Tendenz ein entsprechendes „Manifest“ ausgearbeitet und politischen Entscheidungsträgern übermittelt.

Veröffentlicht ist es, wie einem „Presse“-Interview mit Rudolf Burger zu entnehmen war, nirgends. Doch vertritt Burger offenbar authentisch den Standpunkt des „Manifests“. Was er sagte, läßt sich wie folgt zusammenfassen: Es gehe darum, den freien Willen des Menschen zu respektieren, auch in den äußersten Grenzsituationen des Sterbens. Das beziehe sich nicht nur auf schwere und tödliche Krankheiten, sondern gelte „überhaupt“: Der Wille des Menschen, der sterben wolle, sei anzuerkennen.

Die Schwierigkeiten mit der Durchsetzung des „Rechts“, nach freiem Willen zu sterben, liegen nach Burger in „ideologisch überformten“ Gegenpositionen. Da sei erstens der Euthanasiebegriff, den das Manifest vermeide, weil er in der Nazizeit für die Bemäntelung von Massenmorden mißbraucht wurde. Heute gehe es nicht darum, dem Staat ein Recht auf das Leben einzuräumen, sondern umgekehrt darum, das Recht der Gesellschaft zu bestreiten, jemanden gegen seinen Willen am Leben zu erhalten. …

Die Fälle, in denen ein schwer kranker Mensch zwar noch die Bitte artikulieren kann zu sterben, aber physisch keine Selbsttötung mehr vorzunehmen vermag, bilden zweifellos einen besonders schwierigen Konfliktbereich. Zunächst sei aber das viel weitergehende Postulat betrachtet, „überhaupt“ ein Recht zu sterben anzuerkennen: Allein der „freie Wille“ zu sterben soll entscheidend sein, auch wenn kein nachvollziehbarer, gewichtiger Grund dafür erkennbar ist.

Trifft dies zu, so wäre konsequenterweise bei Vorliegen dieses Willens bei einem Menschen jeder andere berechtigt, ihn bei der Ausübung seines Selbstzerstörungsrechts zu unterstützen. Noch mehr: Jedermann, der den Selbstmordversuch verhindert oder seinen Erfolg abwendet, der also etwa die Waffe, das Gift oder den Strick, die vorbereitet sind, entfernt, der den Todeskandidaten aus dem Wasser zieht, müßte einer Rechtsverletzung geziehen werden. Wer einen Menschen in Todesgefahr antrifft und nicht sicher sein kann, daß diese Gefahr ohne den Willen des Bedrohten entstanden ist, würde klug handeln, wenn er wegschaut. …

Jedenfalls wenn man sich an die Widersprüche des „Zeitgeists“ noch nicht genug gewöhnt hat, muß es unzureichend erscheinen, wenn nun gleichzeitig gerade beim fundamentalen Rechtsgut Leben der „freie Wille“ des Selbstmordkandidaten „überhaupt“ allein ausschlaggebend sein soll. Ist der Wille eines Selbstmordkandidaten (sogar wenn dieser „Normalverbraucher“ ist) per definitionem frei (oder doch freier als der des Auto- oder Kühlschrankkäufers), sodaß es genügt, wenn er ernsthaft geäußert wird?

Und: Warum soll gerade dieser Wille frei von äußeren Zwängen und von inneren Störungsfaktoren sein, die sonst in solcher Breite anerkannt werden? Plausibel wäre eher die gegenteilige Behauptung. Selbstmord steht ja mit der biologischen Grundgegebenheit des Selbsterhaltungstriebs und mit der Einsicht in Widerspruch, daß das Leben das fundamentalste Gut ist, weil die Befriedigung der sonstigen menschlichen Interessen von ihm abhängt.

Eher zu vermuten ist daher, daß beim Selbstmordwilligen ein solcher Ausnahmezustand besteht, daß unbeherrschbare Motivationsfaktoren einen „freien“ Willen in aller Regel ausschließen. Das ist der Grund, aus dem man mit Vorwürfen gegen einen Selbstmordwilligen zögern sollte und aus dem es ein großer Fortschritt war, daß die Bestrafung eines mißlungenen Selbstmordversuchs beseitigt wurde.

Vielleicht will man aber ohnehin nicht nur den „freien Willen“, sondern gerade den „freien“ Willen ernst nehmen und die zureichende Freiheit der Sterbeabsicht gesondert prüfen? In welchem Verfahren, mit welchen Beweisen, von wem und vor allem nach welchen Kriterien wäre aber die zureichende Freiheit zu ermitteln? …

Darüber sollten die Vertreter der „Überhaupt“-Theorie Auskunft geben; auch im Hinblick auf Fälle, in denen ein geretteter Selbstmordkandidat einige Monate nach den Ereignissen, die ihn am Leben verzweifeln ließen, kaum mehr verstehen kann, warum er unbedingt sterben wollte.

Können diese Fragen nicht geklärt werden, ist die Berufung auf den „freien“ Willen weithin eine leere Parole. In der „Presse“ wurden Erfahrungen aus den Niederlanden mit der Euthanasie an schwer Leidenden berichtet, die fast unglaublich erscheinen: Danach sollen nur 17 Prozent der Euthanasiefälle bei Schwerkranken auf einen ausdrücklichen Wunsch des Kranken zurückzuführen sein, die anderen offenbar auf autonome Einschätzungen „Sterbehilfe“ leistender Ärzte.

Überträgt man diese Erfahrung auf die „Überhaupt“-Situation körperlich gesunder Selbstmordkandidaten und würdigt man, daß dort als „Sterbehelfer“ wohl nicht so sehr Ärzte (nach Burger freilich bloße „Gesundheitstechniker“) in Frage kommen, sondern geeignete Personen aus der Umgebung des Todeskandidaten, zeigt sich, daß der Schutz menschlichen Lebens in unabsehbarem Ausmaß Glücksache werden müßte.

Der Unterschied zwischen einem Mörder und einem verdienstvollen Sterbehelfer müßte darin bestehen, daß der letztere einen Sterbewunsch des Getöteten beweismäßig soweit plausibel machen kann, daß ihm der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ zugute kommt. Selbst einfach „getürkte“ Zeugenaussagen über den angeblich geäußerten Sterbewunsch sind schwer widerlegbar, wenn derjenige, um den es geht, bereits tot ist. …

Selbst der freieste Selbstmordentschluß verstößt damit wegen seiner Endgültigkeit und seines das ganze Individuum umfassenden Charakters gegen den Grundsatz der Freiheitsmaximierung selbst. Die Maßgeblichkeit des freien Willens in Beschränkung auf die Situation beim Selbstmordentschluß ohne Rücksicht auf den Verlust künftiger Freiheit ist also nicht etwa besonders rational, sondern in ihrer ungeklärten Widersprüchlichkeit zur Freiheitsmaxime selbst etwas oberflächlich.

Schon intuitiv von anderem Kaliber ist das Problem der Sterbehilfe bei schwerer, hoffnungsloser und mit großen Schmerzen verbundener Krankheit. Wer möchte wohl in solchem Zustand oder gar bei endgültigem Ausfall aller spezifisch menschlichen Lebensfunktionen künstlich noch am Leben in einem rein biologischen Sinn erhalten werden; wer würde nicht eine letzte qualvolle Lebenszeit opfern, wenn ihm durch schmerzreduzierende oder beruhigende, aber lebensverkürzende Medikamente geholfen werden kann?

Die einschlägigen Probleme sind einzugrenzen. Daß der Arzt unbedingt verpflichtet ist, einen Schwerkranken oder Sterbenden so lange wie möglich am Leben zu erhalten, ist nicht richtig. Der Arzt ist weder bloßer Gesundheitstechniker, noch gar eingeschränkter Lebensverlängerungstechniker, freilich erst recht nicht Tötungstechniker. Zu seinen Aufgaben gehört die Linderung von Schmerz und sonstigem Leid. Wenn intensive Medikation nötigi st, die zugleich die Lebensdauer des Patienten verkürzt, ergeben sich Abwägungsfragen, die weitgehend in die Verantwortung des Arztes fallen müssen.

Ähnlich verhält es sich mit der sogenannten „passiven“ Sterbehilfe. Stehen die Unheilbarkeit und der baldige Tod fest und wird ein Patient nur noch durch Medikamente oder Apparate biologisch am Leben erhalten, dürfen diese aussichtsreicheren Fällen gewidmet werden. Eine ärztliche Behandlung, die künstlich einige biologische Funktionen aufrechterhält, hat auch normativ keinen Sinn.

Übrig bleibt als eigentlicher Streitpunkt die „aktive“ Sterbehilfe. Sie umfaßt Maßnahmen, die den unmittelbaren Zweck alsbaldiger Tötung des Kranken haben, insbesondere die Verabreichung von Gift. Bei schwer und hoffnungslos Leidenden verschärfen sich im Verhältnis zur „Überhaupt“-Situation relevante Fakten: Das Argument des freien Willens ist besonders uneinsichtig, auch wenn es nicht um die Extremfälle der Bewußtlosigkeit oder schmerz- oder angstbedingten völligen Unfähigkeit klarer Überlegung geht, in denen vom freien Willen überhaupt nicht die Rede sein kann.

Auch wenn der Patient noch in der Lage ist, willensbestimmte Entscheidungen zu treffen, ist die Qualität der Willensbildung eines schwer und hoffnungslos Kranken vom Modellfall einer freien, reflektiert wählenden Entscheidung weit entfernt. Vollends in den genannten Extremsituationen bleibt überhaupt nur übrig, den Willen des Kranken durch jenen von Angehörigen oder durch den anzunehmenden Willen des Leidenden zu ersetzen.

Wo es um das höchstpersönliche Gut Leben geht, sind solche Auswege besonders problematisch. Der mutmaßliche Wille wird ja von dritter Seite festgestellt, etwa vom Arzt. Es besteht keine Gewähr dafür, daß sich der Beurteilende nicht von eigenen Vorstellungen darüber leiten läßt, wann ein Leidenszustand kein lebenswertes Leben mehr ermöglicht. Die aus den Niederlanden berichteten Ziffern sprechen, selbst wenn sie nur annähernd stimmen, eine deutliche Sprache: In mehr als 80 Prozent der Akte aktiver Sterbehilfe war nicht der Wille des Kranken, sondern die Beurteilung des Arztes maßgebend, der Kranke genieße eine zu niedrige Lebensqualität, leide zu sehr Schmerz, oder es bestehe eine unzumutbare Belastung der Angehörigen (!). Was bleibt da noch vom freien Willen des Betroffenen selbst zum Tod? …

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