Ein behindertes Kind bekommt Schadenersatz zugesprochen, weil es nicht abgetrieben wurde und jetzt mit einer, seiner, Behinderung leben muß.
Die Eltern eines in Frankreich lebenden, sechsjährigen Jungen hatten den Frauenarzt geklagt, weil er sie nicht auf die Behinderung des Fötus hingewiesen hatte. Der damalige Fötus heißt heute Lionel, ist sechs Jahre alt und um ihn herum hat sich eine Diskussion darüber entzündet, ob ein Leben mit Behinderung eine Benachteiligung darstellt, für die es eine Entschädigung zu geben hat.
Die Eltern scheinen dem Irrglauben aufzusitzen, daß sie bei einer nächsten Schwangerschaft dasselbe Kind – diesmal allerdings bereinigt vom Störfaktor Behinderung – noch einmal hätten erwarten können.
Bereits im Vorjahr war einem geistig behinderten jungen Mann der Anspruch auf Schadenersatz zuerkannt worden, weil Ärzte keinen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen hatten, nachdem seine Mutter in der Schwangerschaft an Röteln erkrankt war.
Sprechen wir hier über legitime Entschädigungen für die „Mehrkosten“, die behindertes Leben zu gewärtigen hat oder geht es um „Eugenik durch die Hintertür“ (Presse, 01.12.01)?
Sollen wir uns nun darüber die Köpfe zerbrechen, ob es diesen Eltern nun darum geht, ihre Kinder finanziell abzusichern oder ob das staatlich zugesprochene Geld nicht vielmehr ein Trostpflaster für die narzißtische Kränkung ist, die sie mit der Geburt ihres nicht perfekten Kindes erlitten haben?
Ich denke, es sollte uns hier vor allem um die Wertung gehen, die hier abgegeben worden ist: Es ist besser zu sterben, als behindert zu leben. Die Privatmeinung, die zu diesem Urteil geführt hat, hat nicht zu interessieren – das Menschenbild dahinter spricht für sich.
Der australische Philosoph Peter Singer hat sich dieser Tage in einem Interview (Spiegel, 25.11.01) dafür ausgesprochen, daß eben „nicht alles Leben heilig“ ist – „Mein Vorschlag war, das volle Lebensrecht erst 28 Tage nach der Geburt in Kraft zu setzen.“
Wo sich die Kostenfrage zu decken beginnt mit der Angst vor Funktionsverlust derer, die zu entscheiden haben über Lebensrecht oder Sterbepflicht jener, die keine Stimme haben, beginnt die Angst.
Die Angst davor, das eigene, behinderte, Leben rechtfertigen zu müssen. Nein, die Eugenik kommt heute nicht mehr durch die Hintertür. Sie steht schon mitten im Raum.