Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist (Talmud). Dieser Artikel erschien in der Straßenzeitung Eibisch-Zuckerl.
Ein Stolperstein soll einen Menschen aus der Anonymität der millionenfachen Opfer des Nationalsozialismus holen, daran erinnern, dass er hier gewohnt hat und etwas von seinem Schicksal erzählen.
Was sind „Stolpersteine“?
Die Idee stammt vom Kölner Künstler Gunter Demnig. Er fertigt Betonsteine von 10 cm Kantenlänge mit einer Messingplatte an der Oberseite. Beschriftet mit „Hier wohnte“, dem Namen und Angaben zum Tod des Opfers werden die Steine bodeneben zumeist am Gehsteig vor dem letzten Wohnsitz eingelassen.
Der Beginn dieser Aktion war 1992 zum 50. Jahrestag des Befehls Heinrich Himmlers zur Deportation der „Zigeuner“. Die Ausdehnung auf alle Verfolgtengruppen war naheliegend. 1995 wurden probeweise und ohne Genehmigung die ersten Stolpersteine verlegt. 1997 kam es zur ersten behördlich genehmigten Verlegung von zwei Stolpersteinen in St. Georgen bei Salzburg. Inzwischen wurden in etwa 530 Städten und Gemeinden in Deutschland, Holland, Belgien, Italien, Österreich, Polen, Tschechien, Ukraine und Ungarn mehr als 22.000 Steine gesetzt.
Anregung durch das „Eibisch-Zuckerl“
In der Ausgabe 34 vom Oktober/November 2008 erschien der Artikel „Stolpersteine für NS-Opfer“. Hier wurde über die Stolpersteine in Mödling berichtet. Der Schlusssatz war: „Würde sich eine solche Aktion auch in Wiener Neustadt umsetzen lassen?“
Projekt „Stolpersteine für Wiener Neustadt“
Auch der Aktion Mitmensch gefiel die Idee und eine Projektgruppe aus Mitarbeitern beider Vereine wurde initiiert. Als weiterer Mitarbeiter konnte unter anderen Pastor Eiwen von der Ichthys-Gemeinde gewonnen werden, der gute Kontakte zu lebenden Angehörigen jüdischer Opfer hat. Auch die Reihe prominenter Unterstützer ist lang.
Recherchiert wurden folgende Opfergruppen: jüdische Opfer, politische Opfer, „Euthanasie“-Opfer, kirchliche Opfer, Roma und Sinti, Zeugen Jehovas, homosexuelle Opfer, sonstige Opfer.
Unterstützung durch die Stadtgemeinde
Anfang 2010 haben wir unser Projekt Bgm. Bernhard Müller vorgetragen, der davon sehr angetan war. Alle Parteiklubs erhielten detailierte Unterlagen, und ein Antrag zur Unterstützung des Projektes durch die Stadtgemeinde wurde in der Gemeinderatsssitzung am 25. Mai einstimmig beschlossen. Gleichzeitig ist die Gemeinde Sponsor für zehn Stolpersteine.
Ein kurzfristiger Verlegetermin
Normalerweise muss man etwa ein Jahr warten, um bei Gunter Demnig einen Termin für die Verlegung von Stolpersteinen zu erhalten. Viele wollen Steine verlegen lassen. Gunter Demnig macht die meiste Arbeit selbst. Die individuelle Herstellung und Verlegung ist Teil seiner Philosophie.
Durch Zufall erhielten wir für Ende Juli 2010 einen Verlegetermin, den wir natürlich wahrnehmen wollten. Die Zeit für Nachforschungen war knapp.
Da wir trotzdem wesentlich mehr Opfer recherchiert haben, als Ende Juli Steine verlegt werden können, haben wir bereits für das Frühjahr 2011 einen weiteren Verlegetermin angemeldet. Danach soll es einen Festakt geben und eine Dokumentation fertiggestellt sein.
Warum Stolpersteine in Wiener Neustadt?
Wenn nach derzeitigem Stand der Recherchen von etwa 700 bis 800 jüdischen Opfern und von etwa 100 ermordeten Behinderten in Wiener Neustadt auszugehen ist, sind es Zahlen die bedrücken. Erschütternd ist aber das Einzelschicksal. Die Qualen und Ängste, die das Opfer erleiden musste, und der Kummer der Familie, werden erst so vorstellbar. Drei Schicksale sollen hier beschrieben werden, stellvertretend für die 21 Opfer, denen im Juli 2010 Stolpersteine gesetzt wurden.
Öfter hört man schon in Diskussionen „Bei Hitler hätte es das nicht gegeben!“ oder Parolen aus der NS-Zeit („Das Boot ist voll!“). Es soll mit dem Projekt auch an die bis ins letzte Detail durchorganisierten Gräueltaten erinnert werden, damit es schwerer fällt, die NS-Zeit schönzureden oder gar zu verherrlichen.
Liste der verlegten Stolpersteine
Jüdische Opfer: Gustav Robert BRAUNBERG, Hauptplatz 13, Arnold LEMBERGER und Gattin Bella, Herzog Leopold-Straße 3, Friedrich POLLAK mit Gattin Charlotte, Töchter Inge und Edith, Ecke Ledererg. 1 / Lange G. 5, Maier HACKER, Gattin Regine und Sohn Robert, Dietrichgasse 23, Dr. Leopold BAUER mit Gattin Emma, Sohn Ernst und Tochter Susanne, Raugasse 4, Ignaz SECKL und Sohn Heinrich, Brunner Straße 30
Politische Opfer: Ludwig HUBER, Hauptplatz 20, Paul Johannes SCHLESINGER, Herzog Leopold-Straße 28, Alfred HÖCHSTÄTTER, Wiener Straße 51
„Euthanasie“-Opfer: Helga PAUER, Mießlgasse 43, Juliane TAUL, Grazer Straße 95
Wir hoffen, dass viele Passanten „stolpern“ – nicht körperlich. Die Steine sollen den Schritt hemmen, aufmerksam machen. Ein kurzes Vorneigen zum Lesen des Textes kann als Verbeugung vor dem Opfer gedeutet werden.
Aus einem Brief der Schwester eines „Euthanasie“-Opfers:
„Ich bin dankbar, dass ein Projekt wie die Stolpersteine existiert, und dass Sie sich dafür engagieren, dass Verbrechen der NS-Zeit, wenn schon nicht wieder gut gemacht, so doch nicht vergessen werden.“