Teil 10: Der Behinderung angemessen?

Mosaiksteine über das Zusammenleben von nichtbehinderten und behinderten Menschen.

Essensausgabe in der Kantine
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„Das Essen ist … nun, ich würde sagen: Dem günstigen Preis angemessen. Wenn ich vorher gewusst hätte, wie viele KollegInnen zu unserm Treffen heute kommen, hätte ich uns ein besseres Essen organisiert. Aber so müssen wir leider mit dem Vorlieb nehmen, was es heute sowieso in der Kantine gibt“, entschuldigt sich die Organisatorin meines Arbeitskreistreffens.

Der Arbeitskreis hat nichts mit dem Thema „Behinderung“ zu tun, es ist einer meiner dienstlichen Termine. Diesmal tagen wir zufällig in einer großen Behinderteneinrichtung.

Einrichtung für 1.000 behinderte Menschen

In dieser Behinderteneinrichtung leben rund 1.000 behinderte Menschen. Stolz berichtet die Organisatorin, was für eine Herausforderung es bei all den behinderten Bewohnern und (nichtbehinderten) MitarbeiterInnen ist, jeden Tag so viele Menschen in dieser einen Kantine zu verpflegen. Eine Herausforderung, die erfolgreich gemeistert wird.

Nach dem Arbeitskreistreffen frage ich aus Interesse nach, ob alle behinderten BewohnerInnen der Einrichtung dort essen oder ob die Kantine nur von einem Teil der BewohnerInnen benutzt wird. „Die Kantine arbeitet sogar am Wochenende!“ Sie scheint das als positive Nachricht zu meinen. Und ja, dort essen alle, die in der Lage sind, ihre Wohngruppen zu verlassen.

Ich lasse erkennen, dass ich im Gegenteil erschreckt bin, dass die behinderten Menschen, die von der Einrichtung „unterstützt“ werden, sogar am Wochenende durch eine Großküche verpflegt werden.

Ich kann mich noch daran erinnern, wie es war, wenn ich für wenige Wochen im Krankenhaus oder anderswo nicht mein eigenes Essen zubereiten konnte, sondern eine Gruppenverpflegung bekommen habe. Ich fand das ganz schön anstrengend und war jedes Mal verdammt froh, wenn ich wieder Frau über meine eigene Küche war.

Ich frage die Organisatorin noch, ob sie selbst es nicht auch eine schreckliche Vorstellung findet, nicht ihre eigene Küche zu haben.

Massenverpflegung

In meinem Vergleich stelle ich sie selbst, mich und die BewohnerInnen gleich. Mein Versuch, ihr mit dem Vergleich zu vermitteln, dass es auch für die behinderten BewohnerInnen wahrscheinlich nicht schön ist, auf Dauer von einer Massenverpflegung zu leben, scheitert.

Eine Reaktion, wie diese Bedingungen für sie selbst wären, bleibt aus.

Die Organisatorin erklärt mir jedoch: „Die Menschen in unserer Einrichtung können sich aufgrund ihrer Behinderung nicht selbst verpflegen.“

Ich vergegenwärtige mir, was für Menschen ich in der Kantine gesehen habe. Wenige waren körperlich so stark behindert wie ich oder stärker. Ich lasse nie meine Assistentin für mich kochen. Das kann ich in einer geeigneten Küche problemlos selbst.

Wahrscheinlich haben manche der KantinenbesucherInnen Lernschwierigkeiten. Aber bei Menschen mit Lernschwierigkeiten ist „Hauswirtschaftshilfe“ ein klassisches Berufsbild – warum also dieses Problem mit dem eigenen Essen?

„… aber für behinderte Menschen das Richtige“

Ein und dasselbe Mittagessen möchte sie uns berufstätigen, gutbezahlten ArbeitskreisteilnehmerInnen nicht ein einziges Mal anbieten – aber für behinderte Menschen ist es jahrelang oder gar lebenslang das Richtige? Mir gruselt …

Ich bin ziemlich sicher, dass besagte Organisatorin eigentlich kein besonders schlechter Mensch ist, sondern dass sie wirklich glaubt, dass die 1.000 behinderten Menschen in ihrer Einrichtung behinderungsbedingt einfach nicht kochen können und eine Großküche besser für sie ist.

Komplett-Versorgungs-Einrichtung

Wenn man mehrere Jahre in so einer Komplett-Versorgungs-Einrichtung lebt, hat man wahrscheinlich auch nicht mehr viel Eigeninitiative. Nicht fürs Kochen und nicht für andere Aktivitäten.

Eigeninitiative und eigene Bedürfnisse stören den reibungslosen Einrichtungsablauf. Individualität macht Arbeit und dafür ist meistens keine Zeit da. Auch wenn manche MitarbeiterInnen diese Zeit sicher gerne hätten.

In meinen Augen ist es nicht behinderungs-angemessen, sondern ein Einrichtungs-Folgeschaden, wenn Menschen nicht lernen, sich ihr Essen selbst zu machen, ob allein oder mit Assistenz. Manchmal organisieren auch behinderte Menschen, die außerhalb von Einrichtungen leben, ihr Essen besonders unaufwendig, weil sie nicht genug Assistenz haben, um problemlos zu Hause zu kochen. Es ist die Frage, ob das eine Folge der Behinderung ist oder eine Folge der gesellschaftlichen Bedingungen.

Ich kenne genug Menschen, die stark eingeschränkt sind und z.B. mit 24-Stunden-Assistenz selbstbestimmt in ihrer eigenen Wohnung leben und individuell essen. Zum selbstbestimmten Kochen muss man noch nicht einmal einen Löffel selbst halten können. Und einen besonders hohen IQ braucht man auch nicht. Nur die Erfahrung, dass man selbst entscheiden kann und die eigenen Wünsche, Entscheidungen und Bedürfnisse zählen.

Folge einer unguten Behindertensozialisation

Es ist für mich die Folge einer unguten Behindertensozialisation, wenn Menschen nicht den Wunsch haben, selbst zu bestimmen, wann, wie und womit sie sich ernähren und keine große Eigeninitiative oder Renitenz in dieser Richtung entwickeln.

Ein und dieselbe Lage wird von mir als Einrichtungsfolgeschaden und von der Organisatorin als selbstverständliche Folge der Behinderung gesehen.

Ich glaube, dass das oft passiert. Dass Nichtbehinderte glauben, bestimmte Lebensbedingungen wären wegen einer Behinderung gut und angemessen. Während ich überhaupt keinen Grund für besagte Lebensbedingungen finde, der tatsächlich in der Behinderung liegt.

Restriktive Lebensbedingungen

Es ist so leicht, benachteiligende Lebensbedingungen damit zu rechtfertigen, dass behinderte Menschen genau das wegen ihrer Behinderung bräuchten.

Wenn ebendiese behinderten Menschen durch die restriktiven Lebensbedingungen tatsächlich ein ungewöhnliches Verhalten zeigen, wird dies wieder als Begründung dafür genommen, dass sie eben nicht unter den gleichen Bedingungen, mit den selben Rechten und Möglichkeiten wie Nichtbehinderte leben können. Der Teufelskreis schließt sich.

Diesen Teufelskreis gibt es an vielen Orten: SchülerInnen mit ein und derselben Behinderung haben meist deutlich schlechtere Berufs- und Bildungschancen, wenn sie Sonderschulen besuchen, als wenn sie integrative Schulen besuchen, obwohl Sonderschulen die Behinderung besonders berücksichtigen wollen.

Manche Verhaltensauffälligkeit oder „lebenslange, psychische Erkrankung“ hätte ohne Dauer-Psychiatrisierung oder andere negative Erfahrungen im Gesundheitssystem vielleicht gar nicht so lange bestanden.

Ich nehme an, ich muss nicht erwähnen, was für hehre Worte über Selbstbestimmung, die unantastbare Würde des Menschen und über Assistenz ich im Leitbild der Einrichtung gelesen habe.

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