Teil 14: Mein Lieblingsartikel der UN-Behindertenrechtskonvention „Bewusstseinsbildung“

Mosaiksteine über das Zusammenleben von nichtbehinderten und behinderten Menschen.

mehrere Mikrophone
Ladstätter, Markus

Einer meiner Lieblingsartikel der UN-Behindertenrechtskonvention ist Artikel 8. In ihm steht beschrieben, wie die Staaten durch Bewusstseinsbildung für die Verwirklichung der Menschenrechte behinderter Menschen sorgen wollen.

Durch die verschiedensten Maßnahmen soll die gesamte Bevölkerung mehr über die Lebenssituation und die Rechte von behinderten Menschen erfahren. „Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken“ sollen bekämpft werden, explizit auch diejenigen, die in Zusammenhang mit dem Geschlecht oder dem Alter behinderter Menschen stehen.

Dabei vertritt die UN-Konvention ein anderes Bild von behinderten Menschen, als es bisher oft üblich war. Allein in Artikel 8 wird zweimal auf die Verdienste für die Arbeitswelt und die Fähigkeiten behinderter Menschen hingewiesen, die mehr ins Bewusstsein der Gesellschaft gelangen sollen. Behinderte Menschen werden nicht mit Leid verbunden.

Wir werden nicht als Hilfeempfängerinnen beschrieben

Wir werden nicht als Hilfeempfängerinnen (Für die leichtere Lesbarkeit habe ich nur die weibliche Wortform genommen. Männer sich ausdrücklich mitgemeint.) beschrieben, als jemand, der „sowieso weniger kann“ und Unterstützung braucht, sondern als jemand, der Rechte hat und der Gesellschaft eine Menge gibt.

Vor einer Rede, die ich beim Bremer Behindertenparlament über Artikel 8 gehalten habe, hatte ich darüber nachgedacht, was ich mir für mein eigenes Leben wünsche. Ich bin Rollstuhlfahrerin. Ich wünsche mir zum Beispiel, dass endlich barrierefreier gebaut wird.

Die schöne, neue Behindertentoilette

Vor kurzem habe ich eine brandneue Behindertentoilette benutzt. Als ich in die Toilette hineinfahren wollte, gab es Probleme, weil sie nur über eine doppelte Schwelle zugänglich ist. Als ich die Doppel-Schwelle mit etwas Mühe überwunden hatte, konnte ich es kaum schaffen, die Tür zu schließen. Obwohl ich ziemlich sportlich bin, habe ich überlegt, ob ich nach Passanten rufen und sie um Hilfe bitten soll.

Auf den Wendeflächen standen zwei Lagerschränke und eine Menge Putzzeug. Normalerweise ist diese Toilette abgeschlossen. Allerdings nicht mit dem Euro-Schloss, dem Universal-Schloss für Behindertentoiletten. Die Stelle, an der man um den Toiletten-Schlüssel bitten kann, ist mit Rollstuhl nicht ganz leicht zu erreichen und es ist nur bei Biergartenwetter jemand da.

Die Behindertentoilette ist neu. Sie wurde an anderer Stelle groß gelobt und hat viele öffentliche Gelder bekommen. Ich wünsche mir, dass so nicht mehr gebaut wird. Und ich wünsche mir, dass, wenn es doch mal zu Fehlern kommt, wenigstens schnell auf Hinweise reagiert wird.

Oft wäre ich sogar froh, wenn langsam auf Barrieren-Meldungen reagiert würde – Hauptsache die Barrieren werden überhaupt irgendwann beseitigt …

Hallo Sisyphos

Sehr oft habe ich die Betreiberinnen von Gaststätten, linken Treffpunkten oder Läden angesprochen. Entweder ich habe Bescheid gegeben: „Mit der Toilette stimmt etwas nicht.“ Oder ich habe vor Geschäften gesagt: „Ich möchte gerne hier einkaufen, aber Sie haben eine kleine Stufe. Könnten Sie nicht bitte eine Rampe besorgen?“

Zwei Monate später bin ich wiedergekommen und es war keine Rampe da.

Dann habe ich noch einmal erklärt, warum ich mich schlecht fühle, wenn ich mich jedes Mal die Stufe hoch quälen oder nach Hilfe fragen und mir die Waren vor die Tür bringen lassen muss, statt ohne Probleme selber in Ruhe im Laden ansehen zu können, was es überhaupt alles gibt. Ich habe ihnen gesagt, dass ich mich so nicht als Kundin willkommen fühle.

Und dass E-Rollstuhlfahrerinnen einzelne Stufen noch viel weniger hochfahren können als ich.

Netten Linken aus verschiedenen Projekten habe ich immer wieder versucht verständlich zu machen, dass es nicht schön ist, draußen vor der Tür bleiben zu müssen und nicht an Treffen teilhaben zu können. Und dass sie nicht nur mich persönlich, sondern eine Gruppe von Menschen aufgrund eines äußeren Merkmals ausschließen, wenn sie nichts gegen ihre Barrieren tun.

Ich habe nicht erwartet, dass ein Projekt einen Treppenlift hinunter in den Keller einbaut, weil dort die Toiletten sind. Aber ich habe erwartet, dass Dinge, die kein großer Aufwand sind, umgesetzt würden.

Deshalb kommen sie gar nicht erst her

Ich habe meinem Gegenüber verraten, dass ihr Eindruck trügt, dass alle anderen Rollstuhlfahrerinnen gut mit ihren Räumen zurecht kämen. Für viele ist es ähnlich mühsam und unangenehm, wie für mich, einzelne Stufen zu überwinden oder auch ganz unmöglich. Nur haben sie keine Lust, immer wieder in Bittstellerposition vor der Tür stehen bleiben zu müssen oder sich mit den Barrieren abzumühen. Deshalb kommen sie gar nicht erst her.

Ein Jahr später komme ich wieder und es gibt immer noch keine Rampe.

Bei einem Laden habe ich das sechs Mal gemacht. Ich habe zusätzlich sogar eine Kollegin gebeten, in dem Laden nach einer Rampe zu fragen. Der Ladenbesitzerin war all das anscheinend egal. Genau deshalb ist Artikel 8 mein Lieblingsartikel.

Bewusstseinsbildung heißt, dass den Ladenbesitzerinnen und den Kneipenbesitzerinnen klar wird, dass wir ein Recht haben, ihre Läden zu besuchen, die Toiletten zu benutzen und dort nicht erst Putzmittel herauszuräumen. Und dass es peinlich ist, uns draußen stehen zu lassen. Peinlich für sie, nicht mehr peinlich für uns.

Wir helfen doch gern.

Wenn Geschäfte oder Treffpunkte Stufen haben oder Behindertentoiletten vollgerümpelt sind, sagen die Leute, die dort arbeiten und für die Hindernisse verantwortlich sind, oft: „Ach, wir helfen doch gern!“

„Na dann räume ich das jetzt für Sie heraus. Halbfrei reicht, das passt schon.“

Oder: „Ich helfe Ihnen einmal die Stufen hoch.“ Oder „Wir haben starke Männer hier, die wuchten Sie da hoch. Das ist kein Problem!“

Ich finde, dieses Hochwuchten passt gar nicht zu meiner Würde! Das IST ein Problem.

Die Hälfte ist nicht genug

Genau darum geht es in Artikel 8: Darum, dass allen Menschen klar wird, dass wir Rechte haben, die eingehalten werden müssen. Wir haben eine Würde, die respektiert werden muss. Es geht nicht, zu sagen: ‚Wir geben Ihnen einmal die Hälfte von dem, was Ihnen zusteht, und dann sollen sie dankbar sein. Wir sind gute Menschen, weil wir den Behinderten etwas geben.’

Genau das soll sich ändern. Wir sind keine Almosenempfängerinnen, die für eine halbfreie Toilette dankbar sein müssen! Die Barrieren sind ein Mangel des Ladens, nicht ein Mangel an unserer Person, für den man uns freundlicherweise etwas Hilfe anbieten kann.

Artikel 8 ist ein „Schlüssel-Artikel“

Gesetzliche Vorschriften sind wichtig. Aber so oft werden sie nicht eingehalten oder bis zur Unkenntlichkeit verbogen. Das liegt einerseits am Bewusstsein derjenigen, in deren Zuständigkeitsbereich die Benachteiligung behinderter Menschen fällt (sei es als Gastwirtinnen, Architektinnen, Firmenleitungen, …).

Andererseits liegt es am Behindertenbild der offiziellen Stellen, die über die Einhaltung der Vorschriften wachen sollen, dies aber oft so erschreckend wenig tun.

Außerdem hängt es mit dem Bewusstsein in der Bevölkerung zusammen – die zu selten ihre Ladenbesitzerinnen, Schulleitungen, Verkehrsunternehmen, … auf fehlende Barrierefreiheit anspricht oder sich selbst darum kümmert, Lösungen für Barrieren zu suchen.

Genau die Art von Bewusstsein, die in Artikel 8 beschrieben wird, wäre eine wunderbare Vorraussetzung dafür, dass die Rechte behinderter Menschen in Zukunft tatsächlich mehr eingehalten würden.

Artikel 8 ist für mich ein „Schlüssel-Artikel“, der die Inhalte der anderen Artikel umsetzen helfen kann.

Verantwortungsbewusstsein ist gefragt

Ich möchte, dass die Ladenbesitzerinnen und andere Menschen, die ich auf Barrieren anspreche, reagieren. Ich möchte, dass die zuständigen Behörden reagieren, wenn ich Barrieren melde. Bisher reagieren die Behörden zu selten, zumindest die Behörden hier in Bremen.

Wenn Menschen mit Psychiatrieerfahrungen oder Lernschwierigkeiten in einer Kneipe oder an irgendeinem anderen Ort schlechter behandelt werden, möchte ich, dass das die Gastwirtinnen und die anderen Gäste stört. Dass es ihnen wichtig ist und dass sie etwas dazu sagen. Es ist unser aller Verantwortung, den Mund auf zu machen und aktiv zu werden, wenn jemand diskriminiert oder ausgegrenzt wird.

Unabhängig davon, ob sich die Diskriminierung auf irgendeine der verschiedenen Behinderungsformen bezieht oder auf die Hautfarbe, die Herkunft der Familie, die Religion, das Geschlecht oder darauf, dass die Person nicht in klassische Geschlechterzuschreibungen passt, darauf dass sie arm ist, schwul oder lesbisch oder worauf auch immer.

Ich möchte, dass alle Menschen, denen ich begegne, sehen, ich bin nicht nur behindert, ich bin eine Frau. Ich habe die und die Eigenschaften. Ich möchte nicht nur als behindert und als gar nichts anderes mehr wahrgenommen werden, sondern als Mensch mit Fähigkeiten und Interessen und einer Meinung!

Ich möchte, dass Leute, wenn sie mich sehen, nicht gleich denken: „Oh, ich muss die Tür aufhalten, dann bin ich ein guter Mensch.“ Sondern ich möchte, dass andere mich um Hilfe fragen. In meinem Beruf tun sie das, wahrscheinlich macht er mir auch deshalb soviel Spaß. Außerdem brauche ich persönlich bei Türen gar keine Hilfe.

Darum geht es in Artikel 8, dafür sollen Kampagnen sorgen: Sie sollen „die Anerkennung der Fertigkeiten, Verdienste und Fähigkeiten“ behinderter Menschen fördern.

Respekt statt Mitleid

Ich möchte, dass Menschen, die sprachbehindert sind, die Lernschwierigkeiten haben, die blind sind, die in der Psychiatrie waren, die HIV-positiv sind oder die Rollstuhl fahren, überall mit Respekt begegnet wird. Wir brauchen Respekt statt Mitleid.

Die Staaten wollen in der gesamten Gesellschaft das Bewusstsein für behinderte Menschen und die Achtung unserer Rechte und unserer Würde fördern.

Ich freue mich darauf, wenn sie anfangen!

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich