Mosaiksteine über das Zusammenleben von nichtbehinderten und behinderten Menschen.

„Ja, mit Rollstuhl kommt man bei uns gut zurecht. Wir hatten schon mehrmals behinderte Gäste. Die sind immer gut klar gekommen.“ Auf genauere Nachfrage stellt sich jedoch heraus, dass es vor dem Eingang eine Stufe gibt, manchmal sogar mehrere. Eine Behindertentoilette ist auch nicht vorhanden.
Ich bin bestimmt nicht die Einzige, die diese Dialoge schon oft und in den verschiedensten Variationen geführt hat. Sei es bei attraktiven Gaststätten, Hotels, Theatern oder anderen Kultureinrichtungen, in Arztpraxen, bei kleinen Geschäften, an Szene-Treffpunkten oder wo auch immer.
Erster Stock: Kein Problem
Manchmal habe ich sogar erfahren dürfen, dass Veranstaltungen im ersten Stock kein Problem sind. Ohne Fahrstuhl, versteht sich. „Wir haben genug starke Männer da, die tragen Sie dann hoch. Das ist gar kein Problem.“
Ich erwidere dann für gewöhnlich, dass ich nicht Stufen hoch getragen werden möchte und dass das außerdem, selbst wenn ich wollte, wegen meiner Wirbelsäulenschwierigkeiten gar nicht geht. Wenn ich versuche zu erklären, dass Räume hinter Stufen nicht mit Rollstuhl zugänglich sind, bekomme ich je nach Haltung meines Gegenübers manchmal vermittelt, dass an mir wohl etwas nicht stimmt.
Alle anderen Rollstuhlfahrerinnen (Für die leichtere Lesbarkeit habe ich nur die weibliche Wortform genommen. Männer sich ausdrücklich mitgemeint.) waren nett und offensichtlich zufrieden mit den Räumen. Sie haben sich nicht beschwert. Wenn man ihnen die Tür aufgehalten oder Stufen hoch geholfen hat, haben sie sich freundlich bedankt. Jetzt komme ich und habe etwas auszusetzen.
„Es kommen nur diejenigen, die mit den Räumen zurecht kommen.“
Die Person, mit der ich diese Diskussion führe, kommt meistens gar nicht auf die Idee, dass diejenigen Rollstuhlfahrerinnen, die die Barrieren nicht überwinden können oder sich den Stress nicht antun wollen, gar nicht erst kommen. Es kommen nur genau diejenigen, die mit den Räumen zurecht kommen.
Ob es tatsächlich problemlos für sie geht oder wie viel Mühe es ist, die Barrieren zu überwinden, sieht man meist nicht. Wer pinkelt schon mitten in der Kneipe in ein Bierglas, weil es keine Behindertentoilette gibt? Solange wir das nicht tun und auch nicht über die fehlende Blasendruck-Entsorgungsstelle sprechen, bemerken die meisten Leute gar nicht, dass es ein Problem ist, dass die Behindertentoilette fehlt.
Ich habe einmal von einem Freund gehört, dass die Gaststätte eines bestimmten linken Kulturzentrums sehr rollstuhlgerecht wäre. Sogar die normalen Toiletten wären so gut, dass ein Rollstuhlfahrer sie regelmäßig benutzt, obwohl es eine Behinderten-Toilette gibt.
Türe falsch herum eingebaut
Tatsächlich war die Tür der Behinderten-Toilette falsch herum eingebaut worden. Wenn man mit Rollstuhl in der Kabine stand, gab es keine Chance, die Tür zu schließen. Der besagte Rollstuhlfahrer hat es vorgezogen, sich mit den normalen Toiletten abzumühen, statt sein Geschäft komplett öffentlich zu erledigen. Gedeutet wurde dies aber als Zeichen für eine besonders große Barrierefreiheit der Lokalität.
Das ist in meinen Augen ein typisches Phänomen: Wenn es Rollstuhlfahrerinnen gibt, die Barrieren an einem Ort mit mehr oder weniger viel Mühe überwinden, deuten die Umstehenden das häufig als einen Beleg für die Barrierefreiheit der Räume. Wenn es allerdings keine Rollstuhlfahrerinnen vor Ort zu sehen gibt, kann das die Betreiberinnen zu der Aussage verführen, es gäbe keinen Bedarf, die Räume barrierefrei umzugestalten.
Man sieht keine Rollstuhlfahrerinnen vor der Tür stehen, die herein kommen wollen, aber nicht können. Deshalb macht es keinen Sinn, extra mit viel Geld und Aufwand die Räume umzugestalten. Alleine für mich, die sich jetzt am Telefon beschwert, lohnt das doch nun wirklich nicht.
Da beißt sich die Katze in den Schwanz
Entweder man sieht Rollstuhlfahrerinnen die Räume benutzen – dann ist es kein Problem. Oder man sieht keine Rollstuhlfahrerinnen vor Ort – dann gibt es keinen Bedarf.
Aber Obacht: Nicht alle denken so! Es gibt natürlich viele nichtbehinderte Menschen, die durchaus verstanden haben, dass sie erst barrierefreie Räume brauchen, bevor Rollstuhlfahrerinnen gut kommen können. Wer für Fairness und Chancengleichheit ist, jammert nicht viel darüber, was alles schwierig sein könnte, sondern setzt sich für Barrierefreiheit ein, wo sie fehlt.
„Wir können selber etwas tun“
Außerdem: Wir selber können etwas tun, damit sich die Katze nicht in den Schwanz beißt!
Wenn wir es individuell schaffen, Stufen auf irgendeine Weise zu überwinden, können wir Bescheid sagen, dass es mit einer Rampe trotzdem leichter für uns wäre bzw. dass viele andere Rollstuhlfahrerinnen diese Barrieren nicht überwinden können und sie doch nicht draußen stehen bleiben sollen.
Wir können bei Getränke-Bestellungen nach der Behindertentoilette fragen. Das kann Wirtinnen den wirtschaftlichen Aspekt von Behinderten-Toiletten vermitteln.
Bei Lokalitäten, die uns nicht zugänglich sind, kann es Sinn machen, anzurufen oder vorbeizufahren, wenn man gerade in der Gegend ist, und Bescheid zu sagen, dass ein barrierefreier Zugang für alle besser wäre.
Es wäre super, wenn auch viele nichtbehinderte Menschen immer mal wieder bei ihren Lieblingsplätzen oder anderen attraktiven Orten um Barrierefreiheit bitten würden! Kontinuität und sich von kleingeistigen Bedenkenträgerinnen nicht entmutigen zu lassen, sondern ihnen mit Kreativität begegnen, ist ein gutes Rezept. Wer weiß, wenn Sie 20 Orte ansprechen, ändern vielleicht 2 etwas an ihrer Ausgrenzung. Das wäre schon ein wunderbarer Erfolg.
Dieser Vorschlag bezieht sich nicht nur auf Treppenstufen, sondern auf alle Arten von Barrieren, mit denen Menschen mit den verschiedensten Behinderungen draußen gehalten werden.
Manchmal werden Räume nach vielen Jahren doch noch zugänglich gemacht. Der Weg dahin hat wahrscheinlich aus vielen Steinen bestanden. Manche davon können wir durch Nachfragen legen!
Manfred Liebich,
21.02.2011, 19:53
Hallo, Mit grossem Interesse und Anerkennung habe ich die Veröffentlichungen von Kassandra Ruhm gelesen. Als Kämpfer für Barreierefreiheit kann ich die Schilderungen nur bestätigen. Ich würde mich über ein Gespräch freuen.
Meine Tel-Nr. 0209-394186. Mit freundlichen Grüssen Manfred Liebich
Pixelschubse,
16.11.2010, 00:49
Diese verfluchte „Dankbarkeit“. Immer und immer wieder „lächeln“, lieb und dankbar sein entweder für absolute Selbstverständlichkeiten oder sogar für ausgewachsene Zumutungen. Hauptsache „dankbar“ – harmlos, kindlich, süß.
Kratzen sollten wir, fauchen und fordern, und nicht barbiepüppielike so tun, als könnten wir kein Wässerlein trüben, wir lieben Beinahe-Frauen im achso“kranken“ Körper – zum Mitleid oder zum Hassen freigegeben.
Dankbar noch für die letzte Demütigung („Tragen“ wie einen Sack Kohlen)- DAS kann nur Krüppelfrauen im Land der Behinderer passieren.
Wehren wir uns. Werden wir laut, werden wir lästig, werden wir unbequem. Die Lieben, die Leisen schieben sie ins Eckchen.
Allein – machen sie dich ein, lassen dich nicht rein, schieben dich ins Heim. Und du weißt, dass wir verlier`n – wenn wir uns nicht organisier`n :-)
In diesem Sinne – noch viel Erfolg beim Menschenwachmachen :-)
Kassandra Ruhm,
18.08.2010, 17:33
Liebe Katharina und andere liebe Leserinnen und Leser!
>>Darf ich persönlich den Text verbreiten?
Gerne! Desto mehr Menschen etwas über Behindertenpolitik lesen, desto besser!
Sie können auch gerne einen von meinen andern Artikeln benutzen, verbreiten oder sonstige Schandtaten damit treiben! (Bei Nachabdruck in einer anderen Zeischrift mit Quellen-Angabe (Bizeps) und meiner Autorinnenschaft, auch wüßte ich gerne kurz Bescheid.)
Umso mehr Menschen anfangen sich Gedanken zu machen, desto mehr Barrieren werden Stück für Stück abgebaut, egal ob bauliche oder gedankliche Barrieren! :-)
Es kann auch helfen, wenn Sie bei verschiedenen Internetseiten darum bitten, Links auf verschiedene behindertenpolitische Artikel oder Homepages zu legen (wie z.B. Bizeps,
ZeDis (http://www.zedis.uni-hamburg.de/?page_id=4),
Mondkalb (http://awan.awan.de/mondkalb2/index.php?s=default),
meine beiden Seiten mit Artikel-Sammlungen,…)! Gerade auf Seiten, die vorwiegend von nichtbehinderten Mitmenschen gelesen werden, kann das auf Dauer super nutzen.
Bei mir können Sie sich auf diesen beiden Seiten eindecken bzw. sie weiterempfehlen:
http://www.kassandra-ruhm.de
http://www.bizeps.or.at/person.php?wer=rhm
Oder einfach diesen Artikel ausdrucken und KneipenbesitzerInnen mit 1 Stufe überreichen ;-)
Was auch immer Sie Sinnvolles mit meinem Artikel tun:
Viel Spaß dabei!
Katharina,
18.08.2010, 14:46
Sehr geehrte Frau Ruhm, Sie sprechen mir sehr aus der Seele bzw. wie aus meiner Erfahrungskiste! Dieser Artikel sollte im sämtlichen Zeitungen Wiens bzw. Österreichs gedruckt werden! Besonders gut finde ich den Ausdruck „Blasendruck-Entsorgungsstelle“. Das werde ich mir merken. Darf ich persönlich den Text verbreiten? Liebe Grüße von einer Mitleidenten, Katharina.
Vera Rebl,
17.08.2010, 15:05
Ja, wie wahr! Meiner Meinung nach ist es notwendig, daß wir immer wieder präsent sind. Oft denk ich mir: „dort komm ich eh nicht rein, ich bleib zu Hause“, doch das ist falsch.
Auch ist meiner Meinung nach gut, sich kleine und machbare Verbesserungen zu wünschen, auch wenn sie nicht perfekt sind. Manachmal geht es im Pilgerschritt-Verfahren. Ich treffe immer wieder Menschen, die wirklich willens sind, was zu tun, doch es gibt ein großes Informationsdefizit bezüglich Barrierefreiheit.
Kassandra Ruhm,
16.08.2010, 10:19
Prima Idee, die Sprayaktionen! :-) Vielleicht finden sich dafür ein paar nette Leute, die nicht so schnell wiedererkannt werden, wie ich selbst, wenn ich sprayen würde. Ich will ja nicht gleich zur Rechenschaft gezogen werden und so fiesen Läden noch was zahlen sollen … Ach, was für ein hübsches Straßenbild wäre das mit vielen bunten Sprayereinen für eine buntere Welt :-)
meia,
15.08.2010, 18:44
Sehr guter Artikel – Doch gut zureden hilft meistens nichts – Geldmangel wird oft vorgebracht. Klebeaktionen – auch Sprayaktionismus wie: „NICHT BARRIEREFREI“ oder „NICHT ROLLSTUHLGERECHT“ etc. würde sicherlich Aufmerksamkeit erregen und die Thematik verdeutlichen, da ja die Gedankenlosigkeit oft schon an Borniertheit grenzt.