Teil 16: Lang trainierte Bescheidenheit

Mosaiksteine über das Zusammenleben von nichtbehinderten und behinderten Menschen.

Rollifahrer läßt Notdurft freien Lauf
unbekannt

Alle zwei Wochen fahre ich zu meiner Lieblings-Rollstuhlsportgruppe. Wir haben mehrere Trainingsräume. Einer der wichtigsten Räume hat allerdings keine Behindertentoilette. Wer es nicht schafft, die „normalen“ Toiletten-Kabinen zu benutzen, muss im Vorraum der Toilette öffentlich in ein Gefäß pinkeln, den Katheter benutzen oder die Windel wechseln oder ganz ohne Toilette auskommen.

Ich trinke vor dem Training weniger, um mich seltener mit der Toilette abmühen zu müssen.

Hin und wieder habe ich innerhalb der Gruppe gesagt, dass ich die anderen Räume besser finde, weil es dort Behinderten-Toiletten gibt. Ein paar andere fanden dieselben Räume wie ich besser, weil wir dort mehr Platz haben.

Wieder andere fühlen sich in den Räumen ohne Behindertentoilette wohler, weil sie zu einer gutbürgerlichen Gaststätte gehören und dort kein Sporthallen-Flair herrscht. Für ein geselliges Beisammensein zwischendurch finden sie es dort gemütlicher.

So sind wir zu dem Kompromiss gekommen, zwischen den Sporthallen und den Gaststätten-Räumen abzuwechseln.

Kürzlich habe ich mich mit einer Freundin aus der Sportgruppe über die Toiletten-Situation unterhalten. Erst da habe ich erfahren, dass auch sie Probleme mit der fehlenden Behinderten-Toilette hat. Innerhalb der Gruppe hat sie das nicht erwähnt, wenn wir über die verschiedenen Raum-Möglichkeiten gesprochen haben.

„Wenn es gar nicht gehen würde, würde ich etwas sagen. Aber so – ich kann es ja schaffen, mit der Toilette zurecht zu kommen.“ Auch mindestens eine andere behilft sich mit Kompromisslösungen, kann aber jederzeit von Gaststättenbesucherinnen dabei überrascht werden.

Wenn es zwar unangenehm ist, aber man es irgendwie schaffen kann, mit der Toilettensituation zurecht zu kommen, möchte man den andern keine Mühe machen. Ich vermute mittlerweile, dass es noch mehreren anderen ähnlich geht.

Kompromisse dürfen keine Notlösungen sein

Ich finde es völlig in Ordnung, wenn man sich dafür entscheidet, mal Kompromisse einzugehen und zu versuchen, mit schwierigen Räumlichkeiten klar zu kommen. Solange es keine Notlösungen sind, die immer wieder auf Kosten derselben Seite gehen. Wie oft habe ich mir schon mit schwierigen Toiletten beholfen, habe nichts getrunken oder auf eine Wiese gepinkelt und trotzdem Spaß gehabt.

Das Absurde aber ist: Bei besagter Sport-Gruppe sind die meisten Gruppenmitglieder Rollstuhlfahrerinnen. (Für die leichtere Lesbarkeit habe ich nur die weibliche Wortform benutzt. Männer sich ausdrücklich mitgemeint.) Wir alle versuchen, uns ohne Behinderten-Toilette irgendwie zu behelfen. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, ist es super, flexibel sein zu können. Aber: Wir haben andere Räume mit Toilette.

Wir passen uns an schwierige Bedingungen an, obwohl das gar nicht nötig wäre. Wenn nicht so viele still sein würden, um keinen Aufwand zu machen, sondern stattdessen ehrlich vor der Gruppe sagen würden, dass es Mühe macht oder zu peinlichen Situationen in der Toilette kommt, dann würde die Entscheidung für die Räume vielleicht anders aussehen.

Vielleicht würden wir überlegen, wie wir für mehr Gemütlichkeit und Getränke-Versorgung in den Sporthallen sorgen können.

Keine-Mühe-machen-wollen

Aber wenn aus vorauseilendem Keine-Mühe-machen-wollen gar nicht erst gesagt wird, dass etwas schwierig ist, kann man nicht zu ausgewogenen Entscheidungen kommen.

Ich schreibe diese Geschichte nicht, weil ich glaube, dass wir in meiner Sportgruppe ein besonderes Problem haben. Sondern weil ich glaube, dass diese vorauseilende Bescheidenheit ein typisches Problem ist, mit dem wir behinderte Menschen uns selbst ein Bein stellen können.

Dadurch dass wir versuchen, mit den Gegebenheiten zurecht zu kommen und nicht zu viele Ansprüche zu stellen, entgeht uns eine Menge von dem, was eigentlich möglich wäre.

Welche Tischhöhe?

Vor ein paar Wochen habe ich einen netten Studenten in meiner Universität gefragt, welche Tischhöhe für ihn gut wäre. Er fährt einen höheren elektrischen Rollstuhl und ich habe mir über die Barrierefreiheit der Tische in unserer Cafeteria und Mensa Gedanken gemacht.

Er konnte mir keine Antwort geben. Dass es in unserer Uni keine entsprechenden Tische gibt, die er mir zeigen kann, hat mich nicht gewundert. Aber auch zu Hause hat er keinen einzigen Tisch, den er unterfahren kann.

Das hat mich ziemlich erschreckt. Es ist relativ einfach, Erhöhungen unter Tischbeine zu schrauben. Zumindest wenn die Tischbeine aus Holz sind.

Wenn der Student niedrige Tische hübscher findet oder sie ihm aus anderen Gründen besser gefallen, ist es prima, wenn er nur Tische auf Standard-Höhe hat. Aber ich vermute, der Grund ist nicht seine ästhetische Vorliebe, sondern dass er nicht auf die Idee kam, nach einem unterfahrbaren Tisch zu fragen und dass er nicht so viel Mühe machen wollte. Vor allem, wenn er nicht weiß, wie viel ihm ein unterfahrbarer Tisch nutzt.

Auch er passt sich an die vorhandenen Bedingungen an, obwohl das wahrscheinlich gar nicht nötig wäre.

Diese lang trainierte Bescheidenheit führt nicht dazu, dass die Welt für behinderte Menschen größer und größer wird und es immer mehr Möglichkeiten für uns gibt.

Dadurch, dass wir uns an Gegebenheiten anpassen, werden keine unterfahrbaren Wickeltische und Kinderbettchen erfunden, auch keine Braille-Bilderbücher für blinde Eltern und Erzieherinnen. Kneipen und Geschäfte bauen ihre Barrieren nicht ab. Weder Medikamente, noch Konservendosen oder Pappschachteln bekommen Braille-Aufdrucke. „Es geht ja“, sich von netten Verkäuferinnen beim Einkaufen helfen zu lassen und zu Hause selbst Aufkleber auf die wichtigsten Dinge zu kleben.

Vor kurzem hat meine patente Assistentin in dem Laden mit der Stufe vorm Eingang angerufen, über den ich in meinem Artikel über die UN-Konvention geschrieben habe. Ich habe mich in bzw. vor dem Laden über mehrere Jahre immer wieder mit den verschiedensten Argumenten für eine kleine Anlegerampe eingesetzt.

Meine Assistentin hat so getan, als würde sie mich nicht kennen. Sie hat sich nach der Barrierefreiheit des Ladens erkundigt und um eine Rampe gebeten. Die Ladenbesitzerin vertrat die Ansicht, außer einer einzigen würden alle anderen Kundinnen mit Rollstuhl ohne Probleme mit der kleinen Stufe zurecht kommen.

Auch wenn diese Kundinnen es tatsächlich relativ gut schaffen, die Stufe zu überwinden – ich bin sicher, dass es für sie alle leichter wäre, wenn es eine Rampe gäbe.

Und: Das Ziel, dass ALLE Rollstuhlfahrerinnen den Laden problemlos befahren können, werden wir nicht erreichen, wenn wir sagen, dass es „gut geht“, wenn wir es individuell schaffen können, Barrieren zu überwinden.

Bei ignoranten Zeitgenossinnen ist nicht viel zu machen

Bei so ignoranten Zeitgenossinnen wie der besagten Ladenbesitzerin ist vielleicht nicht viel zu machen. Nebenbei bemerkt führt sie einen Laden für hochwertige Naturkosmetik in einem linken Szene-Viertel. Sie vertritt sicher, mit sozialem Gewissen zu arbeiten.

Die Haltung der anderen Rollstuhlfahrerinnen macht es ihr leichter, sich mit ihrer Ausgrenzung gut zu fühlen und das Problem an mir fest zu machen.

Die andern Kundinnen und meine Mit-Sportlerinnen haben wahrscheinlich gute Absichten, wenn sie sich arrangieren und nicht mehr fordern, als für sie selbst unverzichtbar ist.

Aber wenn wir bescheiden sind, keinen Aufwand machen und nicht mit Beschwerden negativ auffallen wollen, fallen wir uns im Prinzip selbst in den Rücken.

Behinderte Menschen haben oft von früher Kindheit an gelernt, dass sie nicht einfach alles haben und machen können, was für viele andere selbstverständlich ist. Genauso wie arme Kinder nicht die gleichen Möglichkeiten haben wie reiche. Oder wie Mädchen und Jungen auch heute noch mit unterschiedlichen unterschwelligen Rollenzuschreibungen aufwachsen.

Und wie Flüchtlingskindern im Lager oder unter Duldung im Durchschnitt deutlich andere Bildungschancen und Berufe offenstehen, als Lehrerkindern mit einheimischem Pass. Völlig unabhängig von ihren intellektuellen Fähigkeiten und davon, dass offiziell alle Kinder die gleichen Rechte haben.

Wenn man unter ungleichen Bedingungen auf der ungünstigen Seite der Waagschalen sitzt, muss man für manches mehr Aufwand betreiben. Oder man weicht auf andere Möglichkeiten aus. Manchmal gewöhnt man sich so sehr an die einschränkenden Bedingungen, an die man sich gut angepasst hat, dass einem die Unterschiede nicht mehr auffallen.

Selbst mir fällt längst nicht mehr alles auf, obwohl die Zeit meines Lebens, die ich in der Rolle einer Nichtbehinderten gelebt habe, noch immer länger ist als die mit Rollstuhl.

Menschen sind unterschiedlich sozialisiert

Genauso, wie behinderte und nichtbehinderte Menschen unterschiedlich sozialisiert werden, lernen Jungen und Mädchen etwas Unterschiedliches darüber, was man macht und was man nicht macht und über ihre Chancen, Rechte und Möglichkeiten.

Deshalb ist es für Männer im Durchschnitt (nicht im Einzelfall!!) selbstverständlicher als für behinderte Frauen, sich für ihre Bedürfnisse einzusetzen. Und andere erfüllen ihre Bedürfnisse selbstverständlicher, als die von behinderten Frauen. Manchmal sogar ohne dass sie laut und renitent werden müssen.

Dass Männer im Durchschnitt deutlich mehr Arbeitsassistenz bewilligt bekommen als Frauen, ist nur eins von vielen Beispielen dafür. Die einschränkende Bescheidenheit ablegen sollen aber bitte behinderte Menschen aller Geschlechter!

Mein Fazit

Wir sollten alles machen, was irgendwie möglich ist und uns Spaß macht. Solange das gute Gefühl überwiegt, auch dann, wenn wir uns dafür mit Barrieren abmühen müssen. Aber es ist wichtig, immer den Mund aufzumachen und zu sagen, wie es leichter ginge und was nötig ist, damit auch alle andern behinderten Menschen dabei sein und Spaß haben können!

Wenn wir nicht sagen, was die Bedingungen für behinderte Menschen besser macht, werden wir es nicht bekommen!

Nieder mit der lang trainierten Bescheidenheit! Wer schweigt, verliert.

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