Teil 17: Das Recht auf Assistenz in Artikel 19 und in der Realität

Mosaiksteine über das Zusammenleben von nichtbehinderten und behinderten Menschen.

Ratgeber Persönliche Assistenz
BIZEPS

In Artikel 19 der UN-Konvention steht, dass die Vertragsstaaten gewährleisten, dass behinderte Menschen „gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“.

Artikel 19 zu lesen und mir vorzustellen, er würde Wirklichkeit, macht mich jedes Mal glücklich.

In Absatz b wird Artikel 19 noch konkreter: Dort verpflichten sich die Vertragsstaaten, zu gewährleisten, dass „Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten (?) haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist.“ Kann man deutlicher werden?

Jeder behinderte Mensch hat das Recht, „mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben“. Damit das möglich ist, verpflichtet sich der Staat dazu, den Zugang zu persönlicher Assistenz zu gewährleisten. Die Praxis der Behörden, die über die – staatlich zugesicherte – persönliche Assistenz entscheiden, sieht allerdings meistens ganz anders aus.

Das, was behinderten Menschen in Artikel 19 zugesichert wird, ist für die meisten nur ein schöner Traum. In der Realität wird gegenüber Menschen mit hohem Assistenzbedarf häufig sogar die Drohung in den Raum gestellt, ihnen die Assistenz zu Hause zu kürzen, zu streichen oder gar nicht erst zu bewilligen und sie stattdessen in ein Heim zu stecken. Gegenüber von ForseA (Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen) berichten Ratsuchende regelmäßig von Heim-Androhungen.

Die Assistenz zu entziehen, ist eine existentielle Bedrohung.

Jemandem, der für viele Bereiche des täglichen Lebens auf Assistenz angewiesen ist, anzukündigen, ihm die Assistenz zu entziehen, ist eine existentielle Bedrohung.

Assistenz ist normalerweise etwas, das man braucht, um grundlegend wichtige Tätigkeiten des täglichen Lebens auszuführen. Es geht um eine ganz andere Dringlichkeit, als in vielen anderen Bereichen, bei denen überlegt wird, ob man öffentliche Gelder spart oder nicht.

Es geht um etwas anderes, als darum, ob Schlaglöcher in der Straße nach dem Winter ausgebessert werden oder erst im nächsten oder übernächsten Jahr. Auch wenn Schlaglöcher mich nerven: Ich kann entscheiden, langsamer zu fahren und den Schlaglöchern auszuweichen. Man kann aber meist nicht entscheiden, einen Assistenzbedarf einfach nicht zu haben oder bis nach Abschluss eines Gerichtsverfahrens aufzuschieben.

Zu häufig steht für Menschen mit hohem Assistenzbedarf die Drohung mit dem Heim im Raum.

Häufig werden behinderte Menschen, die mit persönlicher Assistenz selbstbestimmt leben möchten, von den zuständigen Sozialbehörden unter Druck gesetzt. Zum Beispiel werden ihnen Deals angeboten, sich mit weniger Assistenz, als sie für ein normales Leben in der Gesellschaft brauchen, zufrieden zu geben. Oder sie werden gedrängt, auf Pflegedienste oder betreutes Wohnen auszuweichen oder sich mit Hilfskräften abspeisen zu lassen, die unter sehr schlechten, vielleicht sogar unrechtmäßigen Arbeitsbedingungen arbeiten.

Ich denke hier unter anderem an das Einsetzen von osteuropäischen Arbeitskräften, die z.B. 2 Wochen am Stück im Dienst sein und alle anderen, nach deutschen Arbeitsschutzbestimmungen und sozialversicherungspflichtig eingestellten Kräfte ersetzen sollen. Ich finde das unrechtmäßig und ein wahnsinniges Konzept. Für beide Seiten ist es eine Zumutung.

Mein eigener Arbeitstag ist 8 Stunden lang. Dabei ist vorgeschrieben, dass ich ihn mit einer halbstündigen Pause unterbreche. Diese Begrenzung meiner Arbeitszeit ist sinnvoll und gut. Im Gegensatz dazu sollen polnische Pflegekräfte hier 336 Stunden am Stück arbeiten? Warum müssen sie soviel weniger geschützt werden als ich als Deutsche?

Wenn das Druckmittel für solche Deals ist, jemandem notwendige Assistenz bis zum Rechtskräftig-Werden von Gerichtsentscheidungen zu verweigern oder ihn in ein Heim zu stecken, sind behinderte Menschen in einer Notlage. Sie können nicht mehr frei entscheiden. Die Zeit, sich für ihr Recht einzusetzen, haben sie oft nicht. Sie sind gezwungen, auf schlechte Deals einzugehen.

Von freiwilligen Entscheidungen ist das weit entfernt. Diese Praxis hat nicht viel mit den Vorgaben des Artikel 19 zu tun.

Es ist Zeit für eindeutige Anweisungen von oben, dass die UN-Konvention einzuhalten ist.

Wenn Behörden-Sachbearbeiterinnen (Für die leichtere Lesbarkeit habe ich nur die weibliche Wortform benutzt. Männer und alle anderen Menschen sind ausdrücklich mitgemeint.) Notlagen hervorrufen und ausnutzen, um behinderte Menschen in die von ihnen bevorzugten Einrichtungen und (Unter-)Versorgungsformen zu nötigen, ist das in meinen Augen genau eine der „schädlichen Praktiken“, gegen die mein Lieblings-Artikel 8 staatliche Maßnahmen verspricht.

Es ist ironisch, dass Mitarbeiterinnen desselben Staates, der sich zu den weitreichenden Vereinbarungen der UN-Konvention bekannt hat, diese schädlichen Praktiken ausüben.

Die UN-Konvention ist seit März 2009 gültiges deutsches Recht und seit September 2008 gültiges Recht in Österreich. In Artikel 4 haben die Staaten sich verpflichtet, „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen“.

Alle Gesetze müssen so geändert werden, dass sie zu den Vorgaben in der UN-Konvention passen und helfen die Konvention umzusetzen. Das wäre eine wunderbare Wendung in der Behindertenpolitik der Sozialverwaltungen und anderen öffentlichen Stellen!

Die Realität sieht leider anders aus. Wann sorgt die Regierung dafür, dass ihre eigenen Mitarbeiterinnen nicht mehr selbst Rechtsbrüche begehen? Für eindeutige Anweisungen von oben bis runter auf jeden Sachbearbeiterinnen-Schreibtisch ist es höchste Zeit!

Aber auch wenn die Regierungen sich zu viel Zeit mit der Umsetzung der UN-Konvention lassen, können wir selber etwas tun! Immer dann, wenn die rechtlichen Vorgaben der UN-Konvention nicht eingehalten werden, lohnt es sich, vor Gericht zu klagen. Die Staaten haben sich offiziell verpflichtet, die vorhandenen Gesetze so zu ändern, dass sie zur UN-Konvention passen. Mit Gerichtsurteilen können wir dafür sorgen, dass Schritt für Schritt Inhalte der UN-Konvention in die Realität umgesetzt werden – ob Politik und Verwaltung das wollen oder nicht!

Hier finden Sie weitere Mosaiksteinen über das Zusammenleben von nichtbehinderten und behinderten Menschen.

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