Teil 19: Inklusion – um jeden Preis?

Mosaiksteine über das Zusammenleben von nichtbehinderten und behinderten Menschen.

Vielfalt mit vielen bunten Bällen
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„Inklusion – um jeden Preis?“, ist der Titel einer Ausstellung, die direkt nach meinem Vortrag eröffnet werden soll.

Ich bin nach Achim bei Bremen eingeladen worden, im Rahmen des Europäischen Protesttags gegen Diskriminierung behinderter Menschen einen Vortrag zu halten. Ich gebe zu, der Titel der Ausstellung hat mich gepiekt. Soll hier wieder die Beteiligung behinderter Menschen am „ganz normalen“ Leben unter Kostenvorbehalt gestellt werden?

Oder denken die NamensgeberInnen der Ausstellung an etwas, das zwar „Inklusion“ heißt, aber von behinderten Menschen einen hohen Preis zu zahlen verlangt, weil sie sich an unpassende Bedingungen einer Mehrheitsgesellschaft anpassen sollen?

Das Konzept, das ich unter dem Begriff „Inklusion“ verstanden habe, ist etwas anderes.

Inklusion bedeutet gar nicht erst ausgrenzen

Inklusion bedeutet, dass Menschen gar nicht erst ausgegrenzt werden. Weil als normal akzeptiert wird, dass die Gesellschaft aus unterschiedlichen Menschen besteht. Wenn man behinderte Menschen nicht erst ausgrenzt, ist es nicht nötig, sie wieder zurück in die Gesellschaft hinein zu integrieren.

Inklusion bedeutet auch, dass nicht die behinderten Menschen an Bedingungen angepasst werden, die auf Nichtbehinderte zugeschnitten sind, sondern dass umgekehrt die Bedingungen an die behinderten Menschen angepasst werden.

Inklusion bedeutet nicht, dass behinderte Menschen ohne oder mit nur wenig der nötigen Änderungen zurechtkommen sollen, um sich innerhalb der Gesellschaft zu bewegen.

Inklusion bedeutet, dass behinderte Menschen alle Ausgleiche, Anpassungen, Barrierefreiheit und Assistenz bekommen, die sie für ihr Leben und um die Gesellschaft mitgestalten zu können, brauchen. Aber eben nicht innerhalb von getrennten Behinderteneinrichtungen, sondern da, wo sie ohne ihre Behinderung auch leben würden.

Sonder-Einrichtungen oder nur mit viel Kampf

Heute ist es oft so, dass behinderte Menschen die Wahl haben, das was sie brauchen, entweder in getrennten Einrichtungen für behinderte Menschen zu bekommen oder viel kämpfen zu müssen, um es in der normalen, gemischten Gesellschaft überhaupt zu bekommen.

Meist kommt bei diesem Kampf heraus, dass sie nur einen Teil von dem bekommen, was eigentlich nötig wäre, um mit gleichen Chancen an der Gesellschaft teilzuhaben.

Die Zeit und Kraft wird nicht bezahlt und nicht anerkannt, die sie dafür brauchen, für barrierefreie Lebensbedingungen, Assistenz und andere Grundlagen ihres Lebens zu kämpfen.

Wer auf dem freien Ausbildungsmarkt keinen Ausbildungsplatz findet, ist oft froh, in einem Berufsbildungswerk überhaupt eine Ausbildung machen zu können. Nicht eine der mehreren hundert verschiedenen Ausbildungen, die es für Nichtbehinderte gibt, sondern eine der wenigen dutzend Ausbildungen, die in Berufsbildungswerken angeboten werden.

Nicht dort, wo man eigentlich gerne wohnen würde, sondern dort, wo das Berufsbildungswerk nun mal ist. Aber besser das, als gar nichts.

Eine freie Entscheidung ist es nicht

Viele Menschen haben nicht die Kraft, den eigensinnigen Willen und den Mut, ein selbstbestimmtes Leben unabhängig von Behinderteneinrichtungen und innerhalb der normalen, gemischten Gesellschaft für sich durchzusetzen.

Wenn sie sich deshalb damit einverstanden erklären, innerhalb von Sonder-Einrichtungen zu lernen, zu arbeiten oder zu leben, heißt das nicht, dass sie die Sonder-Einrichtungen wünschen. Sie haben sich nicht frei dafür entschieden. Es war nur ungleich schwerer, angemessene Lebensbedingungen in der normalen, gemischten Gesellschaft durchzusetzen.

Erst wenn Barrierefreiheit, Assistenz und was alles noch nötig ist, um gut, frei und selbstbestimmt leben zu können, überall selbstverständlich sind, können sich behinderte Menschen frei entscheiden, ob sie innerhalb von Behinderten-Einrichtungen leben oder arbeiten wollen oder ob sie auch gerne nichtbehinderte KollegInnen, Nachbarn und ein bunt gemischtes Lebensumfeld haben.

Wenn jemand aus einer Behindertenwohngruppe auszieht, reicht es nicht, ihm eine barrierefreie Wohnung zu geben und dass vielleicht 1-2-mal pro Woche eine Betreuung kommt. Wenn behinderte Menschen dann scheitern und sich manche dafür entscheiden, zurück ins die Wohngruppe zu ziehen, ist das kein Wunder. Oft gibt es viel zu wenig Assistenz für die Führung eines eigenen Haushalts und dafür, sich draußen zu bewegen und sich in eine ungewohnte Gesellschaft zu integrieren.

Wenn behinderte Menschen sich manchmal einsam und in den gemischten Treffpunkten nicht erwünscht genug fühlen, wenn sie den Eindruck haben, dass Nichtbehinderte weniger Interesse daran haben, sich mit ihnen anzufreunden oder sich in sie zu verlieben, kann es verlockend sein, in getrennte Einrichtungen für behinderte Menschen zu gehen, um anerkannt, gleich „wert“ und normal zu sein. Eine freie Wahl ist das allerdings nicht.

Behinderte Menschen zu respektieren heißt, ihre Behinderung zu berücksichtigen

Wenn behinderte Kinder und Jugendliche einfach in eine nichtbehinderte Klasse mit hereingesetzt werden, ohne auf ihre besonderen Bedingungen und Bedürfnisse einzugehen, sind das keine fairen Bedingungen. Das ist keine Inklusion.

Behinderte Menschen zu respektieren heißt, ihre Behinderung zu beachten und Bedingungen zu schaffen, unter denen sie die gleichen Chancen haben, wie andere Menschen.

Schlecht gemachte „Inklusion“ ohne faire Chancen darf kein Argument gegen Inklusion sein. Sie darf kein Argument dafür sein, bestehende, absondernde Lebens- und Arbeitsbereiche aufrecht zu erhalten.

Manche getrennten Lebens-Bereiche kann man leicht sehen

Manche Bereiche, die getrennte Welten für behinderte und nichtbehinderte Menschen mit sich bringen, sind leicht zu greifen. Man kann sie sehen und anfassen, wenn man hinguckt oder hingeht.

Getrennte Schulklassen und Sonderkindergärten kann man sehen, wenn man nicht wegguckt. Gebäude und Spielplätze, Bahnen und Schiffe, die nur eingeschränkt barrierefrei sind, auch. Wenn man nicht selbst betroffen ist, muss man hingucken oder darüber nachdenken, damit einem diese getrennten Lebensbereiche auffallen.

Wenn man darüber nachdenkt, kann einem auffallen, dass ein deutlicher Anteil behinderter Menschen nicht in ganz normalen Betrieben mit an sie angepassten Aufgaben mitarbeitet, sondern in Werkstätten ausschließlich für behinderte Menschen arbeitet oder zu Hause bleibt.

Oder dass sie nicht allein oder mit ihren PartnerInnern und Kindern in ganz normalen Wohnungen mit bunt durcheinander gemischten Nachbarn wohnen und dort die Hilfen bekommen, die sie brauchen, sondern in getrennten Wohneinrichtungen für behinderte Menschen oder bei ihren eigenen Eltern, obwohl sie schon erwachsen sind.

In den Köpfen

Manches, was zu einem getrennten Leben von behinderten und nichtbehinderten Menschen führt, kann man sehen, manches nicht. Es findet in den Köpfen statt, in selbstverständlichen Bildern und Vorurteilen über behinderte Menschen, über ihre Leistungsfähigkeit, ihre Wichtigkeit für die Gesellschaft, über ihre Schönheit und Attraktivität, darüber, mit wem man gerne seine Freizeit verbringen möchte.

Wichtig für Inklusion sind beide Bereiche, sowohl der, den man sehen kann, wenn man hinguckt, als auch der in den Köpfen.

Wir alle haben die Verantwortung, uns für eine Gesellschaft einzusetzen, in der alle Menschen gleichberechtigt zusammen leben können. Das können behinderte Menschen nicht allein erreichen. Damit Inklusion möglich ist, sind Barrierefreiheit, Assistenz und der Ausgleich von Nachteilen in allen Lebensbereichen nötig. Sowohl bei den Barrieren, die man anfassen kann, als auch bei den Barrieren in den Köpfen, die unseren Umgang miteinander bestimmen.

Das muss nicht immer teurer als das Aufrechterhalten von Sonder-Einrichtungen sein. Eine andere Haltung zu behinderten Menschen und ein anderes Behindertenbild kosten nicht viel und ändern eine Menge.

Aber selbst wenn Inklusion etwas kostet: Die Menschenrechte behinderter Menschen dürfen nicht unter Kostenvorbehalt stehen.

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