Teil 3: Die Schwierigkeit, sich zu wehren

Mosaiksteine über das Zusammenleben von nichtbehinderten und behinderten Menschen.

Rollstuhlfahrerin wehrt ab
Ruhm, Dipl.-Psych. Kassandra

Viele Kontakte zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen sind gut und von gegenseitigem Respekt und einem selbstverständlichen Umgang geprägt. Ich selbst fühle mich z.B. an meinem Arbeitsplatz sehr wohl. Dort erlebe ich nur selten unangenehme Reaktionen auf meine Andersartigkeit.

Ich fühle mich wohl, wenn auf die Bedingungen, die ich brauche, Rücksicht genommen wird, ohne viel Aufhebens darum zu machen – aber ich nicht auf meine Behinderung reduziert werde.

In meinen letzten 15 behinderten Lebensjahren und den Kontakten mit vielen andern behinderten Menschen habe ich allerdings manchmal den Eindruck bekommen, dass einige (nur ein paar, nicht alle!!) Menschen glauben, mit behinderten Menschen schlecht umgehen zu können, ohne dass es Folgen für sie hat.

Es fällt ihnen nicht auf

Ich schätze, es fällt ihnen oft nicht mal auf, wenn sie sich Sachen rausnehmen, die sie mit Nichtbehinderten nicht so leicht machen würden. Das gilt sowohl für Personen, die mit behinderten Menschen arbeiten, als auch für Liebesbeziehungen und andere Kontakte. Vielleicht denken sie, wir würden nicht so schnell von ihnen weg gehen, weil wir nicht so leicht jemand anderen finden. Vielleicht rechnen sie mit weniger Kritik, vielleicht mit Dankbarkeit oder denken, wir würden uns nicht wehren.

Ich glaube, teilweise stimmt das sogar und Menschen mit Behinderung lassen sich manchmal Sachen gefallen, die man besser nicht tolerieren sollte. Ich merke das bei mir selber auch. Ich habe zwar den Ruf, Haare auf den Zähnen zu haben, aber selbst ich lasse mir heute manchmal Dinge gefallen, die man damals als Nichtbehinderte nicht so leicht mit mir hätte machen können.

Es ist kein Wunder, wenn sich Menschen mit Behinderungen, und besonders Frauen, nicht so schnell abgrenzen und wehren. Zum Beispiel wenn man bedenkt, wie fremdbestimmend und wenig service-orientiert in Behinderten-Einrichtungen oft mit uns umgegangen wird. Oder wie respektlos oder aufwendig zu nutzen Behinderten-Sonderfahrdienste ihren NutzerInnen manchmal gegenübertreten.

Die Menschen sollen in die Dienstpläne passen

Ich glaube, in dem großen (Wirtschafts-) Bereich, der von behinderten Menschen lebt, herrscht ein Bild vor, das uns behinderte Menschen nicht als KundInnen ihrer Dienstleistungen und damit als ihre Chefs ansieht. Sondern, überspitzt ausgedrückt, als Menschen, die in Dienstpläne und Abläufe passen sollen und zufrieden sein müssen, dass sie bekommen, was man ihnen gibt.

Natürlich meine ich nicht, dass alle Angebote gleich sind und es gibt auch viele MitarbeiterInnen im Behindertenbereich, die respektvoll und sogar unter schwierigen Bedingungen klasse drauf sind. Aber die verbreiteteste Haltung in Behinderten-Sondereinrichtungen ist nicht die, dass wir die Chefs sind, für die gearbeitet wird und deren Wünsche und Lebenspläne das oberste Gebot sind, sondern dass behinderte Menschen HilfeempfängerInnen sind und sich in die Betriebsabläufe einfügen sollen.

Ich selbst bin erst seit Anfang 20 behindert und habe nie in einer Aussonderungs-Einrichtung gelebt. Aber selbst ich habe Auswirkungen dieser Haltung gegenüber behinderten Menschen gespürt. Um wie viel mehr sind Menschen in so eine Rolle herein gewachsen, die von klein auf gelernt haben, was ihnen zustehen soll und was nicht und dass sie Dankbarkeit und Gehorsam zeigen müssen, wenn sie Hilfen wegen ihrer behinderungsbedingten Einschränkungen haben wollen.

Gelernt, sich anpassen zu müssen

Wenn man lange gelernt hat, dass man sich anpassen muss und vom Wohlwollen anderer abhängig ist, ist es schwerer, herauszufinden, was man selbst will, wo die eigenen Grenzen sind und sich zu wehren. Das hat sowohl mit lesbischen, schwulen oder anderen, individuellen Lebensvorstellungen, als auch mit dem Wehren gegen Übergriffe und andere Grenzüberschreitungen zu tun.

Es ist schwerer, sich zu wehren gegen Menschen, von deren Unterstützung man abhängig ist.

Es ist schwerer, sich zu wehren, wenn man über Jahre gelernt hat, dass behinderte Menschen hilflos wären. Genauso wie Frauen manchmal denken, sie könnten sich mit ihrer Körperkraft nicht erfolgreich gegen Männer wehren, weil diese naturgemäß stärker als sie wären.

Gefühl der Hilflosigkeit

Es ist ein verallgemeinertes Vorurteil, Frauen oder behinderte Menschen wären nicht stark genug, um sich erfolgreich zu wehren und jemand anderem gefährlich zu werden. Es führt zu einem Gefühl von Hilflosigkeit. Dieses Vorurteil kann dazu führen, dass man das, was trotzdem möglich wäre, gar nicht erst mit aller Kraft versucht.

Das gesellschaftliche Behindertenbild, tatsächliche Abhängigkeitsverhältnisse und eine – im Durchschnitt – unterprivilegierte Lebenssituation kommen zusammen und führen dazu, dass sich Menschen mit Behinderungen manchmal mehr gefallen lassen (müssen), als gut ist.

Ziele suchen

Ich finde, es ist sehr wichtig, sich auf den Weg zu begeben, nach ihren eigenen Wünschen, Träumen, Zielen, Vorstellungen, Grenzen, Vorlieben und Idealen zu suchen. Es ist nicht immer leicht herauszufinden, was man will und was man nicht will. Und dann sich dafür einzusetzen, dass die eigenen Vorstellungen Wirklichkeit werden – und nicht die anderer Leute. Dass nichts mit einem gemacht wird, was man nicht möchte.

Manchmal ist es nicht möglich, durchzusetzen, dass man immer respektvoll behandelt wird. Das schaffe selbst ich nicht, und ich habe gerade verdammt viel Glück im Leben. Aber auf jeden Fall lohnt es sich, herauszufinden, was die eigenen Wünsche sind, dafür zu kämpfen und sich zu wehren, wenn was nicht stimmt!

Dieser Artikel ist ein Ausschnitt aus einem längeren Text, den ich für ein Coming-Out-Buch mit Interviews mit „behinderten“ Lesben und Schwulen geschrieben habe. Link zum kompletten Text und weiteren Texten von mir.

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