Teil 4: Der Vorher-Nachher-Effekt

Mosaiksteine über das Zusammenleben von nichtbehinderten und behinderten Menschen.

Viel Zeit ist vergangen
BilderBox.com

Ich kenne beide Seiten, das Leben als behinderte und als nichtbehinderte Frau. Leider nicht als Frau und als Mann, das wäre auch sehr interessant. Aber diesen Vergleich kann ich nicht anbieten.

Bis ich 21 Jahre alt war, habe ich als „Nichtbehinderte“ gelebt. Im 3. Semester meines Studium wurde ich bedrohlich krank und konnte lange Zeit meine Wohnung nur noch im Notfall verlassen. Nach der langen, langen Zeit wurde ich langsam wieder so fit, dass ich etwas länger sitzen, einen Rollstuhl benutzen und in die Außenwelt zurück kehren konnte.

Seltsame Behandlung

Wie seltsam Menschen mit Behinderungen oft behandelt werden, fällt einem sicher nicht so stark auf, wenn man von Kindheit an als „Behinderter“ angesehen wird, als wenn die Rolle, die einem gegeben wird, sich im Erwachsenenalter ändert. Manchmal bin ich froh darüber, diesen krassen Wechsel erlebt zu haben.

So kann ich eher sagen: „Nein, dieses Bild von mir hat nichts mit mir zu tun. Das ist nur ein Vorurteil. Das bin nicht ich, das ist eure Angst.“ Ich kann es damit vergleichen, als was für ein Mensch ich vor meiner sichtbaren Behinderung behandelt worden bin.

Früher galt ich als attraktive Frau

Früher galt ich als attraktive Frau, die ziemlich idealistisch, ungewöhnlich in ihren Ansichten und ein bisschen verrückt ist, sich einen Haufen Gedanken macht und interessante Ideen, viel Kritik an der Welt und viel Lebensfreude hat, …

Es waren eigentlich ständig mehrere Leute in mich verliebt. Natürlich gab es auch Leute, die mich nicht mochten, weil ich ihnen zu unangepasst war, wir unterschiedliche Wertmaßstäbe hatten oder weil sie meine Art nicht mochten. Auf jeden Fall wurde ich aber als eine Persönlichkeit mit bestimmten Eigenschaften wahrgenommen.

Ich bewege mich nur anders fort

Seit ich als „behindert“ angesehen werde, ist das anders. Dabei bin ich gar kein anderer Mensch als früher. Ich bewege mich nur anders fort.

Von den meisten Nichtbehinderten wird als erstes mein Rollstuhl gesehen. Meine anderen Eigenschaften treten dahinter zurück.

Es kommt darauf an, wo ich bin. Unter anderen behinderten Menschen werde ich so gesehen, wie ich bin. An meiner jetzigen Arbeitsstelle fühle ich mich auch sehr wohl. Ich arbeite mittlerweile als Psychologin in einer Beratungsstelle an der Universität Bremen. Da fallen mein Rollstuhl und mein rasanter Fahrstil zwar auf, aber ich werde nicht auf „behindert“ reduziert.

In der „Normalgesellschaft“

Aber draußen in der „Normalgesellschaft“ finde ich es beizeiten ganz schön anstrengend, mit welchen Stereotypen ich mich auseinander setzen muss und wie stark meine eigentliche Persönlichkeit und meine Fähigkeiten oft ignoriert werden.

Überspitzt ausgedrückt werden Menschen mit einer sichtbaren Behinderung mit folgendem Bild konfrontiert: Behinderte sind hilflos, sie können nicht so viel wie andere, sind nicht so selbstständig. Sie sind eher dumm und naiv, als lebenserfahren.

Man bezeichnet sie als „tapfer“

Außer beim Leiden: Behinderte leiden und haben daraus möglicherweise eine Bewusstseinserweiterung erfahren. Vielleicht bezeichnet man sie als „tapfer“, weil sie fröhlich sind, obwohl sie „so“ sind. Aber sie kennen es ja nicht anders. Man kann Behinderte bemitleiden oder exotisch finden und bewundern – aber man muss sie nicht auf die selbe Stufe mit sich selbst stellen und ihnen von gleich zu gleich nahe kommen. Wie gesagt: Ich übertreibe hier, um zu verdeutlichen.

Beizeiten wird uns Mitleid übergestülpt, egal, ob unsereins in dem Punkt, auf den sich das Mitleid bezieht, selbst überhaupt leidet oder nicht. Besonders unpassend finde ich die Kombination, wenn Nichtbehinderte mich dafür bemitleiden, dass ich bin, wie ich bin, nämlich behindert, aber NICHTS dafür tun, dass tatsächlich vorhandene Benachteiligungen verringert werden.

In der falschen Welt?

Ich selbst finde mich wegen meines Rollstuhls nicht weniger gut oder bemitleidenswert. Das, wofür Mitleid angemessen wäre, sind Benachteiligungen, unter denen ich leide. Aber nicht, dass ich bin, wie ich bin. Dann fühle ich mich in der falschen Welt.

Ohnehin kommen die meisten der Einschränkungen, unter denen ich leide, nicht von meiner Behinderung selbst, sondern vom unguten Umgang von andern damit oder durch gesellschaftliche Benachteiligungen (fehlende Barrierefreiheit, obwohl es möglich wäre, …). Also durch Bedingungen, die gar nicht so sein müssten.

Dieser Artikel ist ein Ausschnitt aus einem längeren Text, den ich für ein Coming-Out-Buch mit Interviews mit „behinderten“ Lesben und Schwulen geschrieben habe. Link zum kompletten Text und weiteren Texten von mir.

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich