Teil 5: Die „Wer-bin-ich“-Verwirrung in der Frauenszene und beim Flirten

Mosaiksteine über das Zusammenleben von nichtbehinderten und behinderten Menschen.

Symbolbild: Flirten
BilderBox.com

Es ist manchmal erstaunlich unterschiedlich, als wen mich viele Nichtbehinderte betrachten und was ich selbst darüber denke. Wobei ich finde, ich selbst kann es besser beurteilen, wer und wie ich bin. Ich kenne mich schließlich viel länger!

Am heftigsten habe ich die Ignoranz meiner Person mit all meinen Eigenschaften und Fähigkeiten erstaunlicherweise in der Frauenszene erlebt. Bei vielen Frauen (nicht allen!) hatte ich das Gefühl, als erstes sehen sie meine Behinderung. Dann noch mal meine Behinderung. Dann lange nichts. Dann erst kommen meine andern Eigenschaften.

„Bloß nicht persönlicher werden“

Außerdem habe ich den Eindruck, dass viele in der politischen Frauen-Lesben-Szene Angst haben, sich mir gegenüber politisch unkorrekt zu verhalten und als Folge mich meiden. Wenn jemand auf Distanz geht, verängstigt korrekt-höflich oder unecht-überfreundlich ist – aber den Kontakt bloß nicht persönlicher werden lässt – finde ich das auf Dauer unangenehmer, als wenn mich jemand aus Versehen oder Achtlosigkeit beleidigt, aber mich wenigstens als Mensch sieht und mit mir redet.

Parallel mit der Angst vor politischer Unkorrektheit habe ich in der Frauen-Szene eine ungewöhnlich geringe Wertschätzung meiner Person erfahren. Anders, als an andern Orten. (Das gilt wieder nicht für alle politischen Frauen. Mit einigen bin ich ganz selbstverständlich befreundet und es ist gut.)

In der Schwulenszene ist es für mich leichter. Ich weiß nicht genau, woran das liegt und ob es für behinderte Schwule genauso ist. Vielleicht haben Schwule weniger Angst vor mir, weil sie nicht befürchten, ich wollte etwas mit ihnen anfangen? Dabei sollte das sowieso kein Grund zur Furcht, sondern zur Freude sein! Und entweder als Kompliment verstanden werden, auf das frau eben einen Korb gibt oder als Glück, auf das frau eingeht.

„Obwohl, das stimmt nicht ganz“

Angegraben werde ich nur noch 5 % so oft, von dem wie häufig es früher, als Nichtbehinderte war. Obwohl, das stimmt nicht ganz. Das bezieht sich nur auf Kontakte mit Nichtbehinderten. Von andern Menschen mit Behinderungen werde ich sehr oft angeflirtet.

Daraus könnte ich die Empfehlung ableiten, sich bei der Suche nach der großen oder kleinen Liebe bei andern behinderten Menschen umzugucken, falls es mit Nichtbehinderten schwierig ist.

Die meisten der Frauen, mit denen ich Techtelmechtel oder Liebesbeziehungen hatte, sind nichtbehindert. Einfach, weil es viel mehr nichtbehinderte Lesben gibt, als behinderte. Allerdings haben sich manche von ihnen in Zusammenhang mit meiner Behinderung situationsweise demütigend mir gegenüber verhalten. Bei andern von meinen Geliebten war es kein Problem, dass sie nichtbehindert sind.

Schön unterschiedlich zu sein

Mit behinderten Frauen war es meist leichter, sich nah zu kommen. Andererseits finde ich, dass es besonders schön ist, unterschiedlich zu sein und sich nahe zu kommen. Vielleicht kommt es mit einem behinderten Gegenüber leichter zu einem gegenseitigen Interesse.

Aber wie man miteinander leben kann, hängt vom Individuum ab und da ist die Behinderung oder Nichtbehinderung nur eine von vielen Eigenschaften, die den Erfahrungshintergrund bestimmen. Ich glaube, die Hauptsache ist, darauf zu achten, ob jemand gut mit einem umgeht und sich selbst genauso darum zu bemühen.

Typische Geschichte

Zur Verdeutlichung der seltsamen Sichtweisen mancher Nichtbehinderter erzähle ich jetzt noch eine kleine, typische Geschichte über den Unterschied zwischen meinem Selbstbild und dem Fremdbild, mit dem mir gegenübergetreten wurde:

Vor einigen Jahren saß ich morgens in einer Physiologie-Vorlesung. Ich hatte gerade ein super Wochenende in einer Großstadt ein paar hundert Kilometer entfernt hinter mir. Eine Menge toller Leute hatte ich getroffen. Freundinnen, die mir seit längerem am Herzen lagen. Und neuere Bekanntschaften mit Frauen geknüpft, die ich schon eine Zeit lang bewundert hatte und klasse fand – und die tatsächlich auch Interesse an mir hatten und sich über den Kontakt freuten.

Viele interessante Gespräche, aufregende und glückliche Stunden lagen hinter mir, als ich in der Vorlesung saß und noch innerlich strahlte. Neben mir saß eine ältere, lesbische Kommilitonin. Ich war froh, dass sie neben mir saß, weil ich auf dem Rollstuhlplatz oft allein sitzen musste. Ich wusste, dass sie Eva, eine Ex von mir flüchtig kannte.

Vor ein paar Wochen hatte ich extra einfließen lassen, in welchem Verhältnis Eva und ich standen, um dem Vorurteil entgegen zu wirken, „Behinderte“ wären unattraktiv und hätten meist keine Beziehungen. An dem Montag-Morgen in der Vorlesung habe ich ihr dann vorgeschwärmt, wie toll das Wochenende war und wen ich alles getroffen habe.

Ihre Reaktion?

Statt sich mit mir zu freuen oder neidisch zu werden, schenkte sie mir einfühlsames Mitleid. Sie nickte leicht mit dem Kopf und sagte mit bedauernder Stimme: „Ja, es wäre doch schön, wenn du ein paar mehr Bekannte hier in der Gegend finden könntest.“

Dieser Artikel ist ein Ausschnitt aus einem längeren Text, den ich für ein Coming-Out-Buch mit Interviews mit „behinderten“ Lesben und Schwulen geschrieben habe. Link zum kompletten Text und weiteren Texten von mir.

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich