Teil 6: Das mehrfache Coming-Out

Mosaiksteine über das Zusammenleben von nichtbehinderten und behinderten Menschen.

Zwei Liebende
Ruhm, Dipl.-Psych. Kassandra

In unserer an Nichtbehinderten orientierten Gesellschaft kommt es bisweilen zu erstaunlichen Umgangsweisen mit ganz normalen behinderten Menschen.

Wie man von der Außenwelt behandelt wird, hängt natürlich davon ab, wie gut die eigene Behinderung sichtbar ist. Wenn die Behinderung von andern nicht bemerkt wird, fallen die direkten abwertenden Reaktionen weg. Es kann trotzdem weh tun, wenn Bekannte finden, jemand mit der eigenen Behinderung sollte abgetrieben werden oder andere negative Bemerkungen über Menschen mit Behinderungen machen. Aber sie wollen nicht weniger mit einem tanzen oder Kaffee trinken gehen. Zumindest, solange man seine Behinderung nicht outet. Man kann sich entscheiden, wie viel man von sich zeigt.

Ich stehe dazu

Es gibt ein inneres und ein äußeres Coming-Out. Beim äußeren Coming-Out verrate ich andern, dass ich lesbisch, schwul, behindert,… bin und stehe dazu.

Beim inneren Coming-Out gestehe ich mir selbst ein, dass ich bin, wie ich bin. Ich setze mich offen damit auseinander und versuche nicht mehr, davor weg zu laufen oder es zu ignorieren.

Man kann für die Außenwelt sichtbar behindert sein, aber selbst z.B. sagen „Ich bin nicht behindert, ich habe MS.“ Oder „Ich habe nur ein Gehproblem, ich brauche ja keinen elektrischen Rollstuhl.“ „Die Geistigbehinderten sind richtig anders. So bin ich nicht. Ich bin normal. Ich bin nur sprachbehindert, schwerhörig oder querschnittgelähmt.“

Man kann auf Hilfsmittel verzichten, die einem das Leben erleichtern und mehr Handlungsspielräume geben würden, weil man sich die vorhandenen Einschränkungen nicht eingestehen will. Vielleicht hofft man sogar, mit genug Training wieder nichtbehindert zu werden. Manchmal kann das tatsächlich gelingen, zumindest teilweise. Manchmal ist es aber ein ähnlich einschränkendes und selbstverleugnerisches Unterfangen, wie die Therapien, die aus Schwulen und Lesben Heterosexuelle machen sollten.

Coming-Out macht manchmal Angst

Ein inneres und äußeres Coming-Out macht manchmal Angst, aber es kann das Leben leichter machen. Lesben, Schwule, bi- und transsexuelle Menschen mit Behinderungen haben (mindestens) zwei Bereiche, in denen sie sich entscheiden müssen, ob sie ein Coming-Out machen oder lieber versteckt im Schrank bleiben wollen. Die sexuelle Identität und die Behinderung. Mein Eindruck ist, dass sich einige entscheiden, entweder die Identität „behindert“ oder die Identität „lesbisch“ bzw. „schwul“ zu leben. Beides zusammen ist ihnen zu viel.

Sie leben entweder in einem Umfeld, in dem verschiedene andere Menschen behindert sind, haben einen offenen Umgang mit ihrer Behinderung und ihre Lebenssituation darauf eingestellt. Oder sie bewegen sich in der Lesben- oder Queer-Szene und bemühen sich, die Behinderung in den Hintergrund treten zu lassen, sie nicht als Identität offen zu leben. Sie versuchen, sich so gut es geht an nichtbehinderte Bedingungen anzupassen und kritisieren wenig.

„… nichts, was man verstecken muss“

Das gibt es natürlich nicht nur bei Lesben, sondern auch bei vielen andern behinderten Menschen. Wer seine Behinderung verstecken kann, tut das häufig und steht nicht offen dazu. Ich finde, behindert zu sein, ist nichts, was man verstecken muss. Wir sind anders – nicht schlechter! Wenn man etwas versteckt, verleugnet man einen Teil von sich selbst. Dadurch tut man so, als ob es wirklich etwas Falsches wäre.

Ich weiß, dass es manchmal ungute Reaktionen auf meine Andersartigkeit gibt. Ich muss entscheiden, wie viel ich davon ertragen kann und wann ich mich zu Hause verkriechen oder Teile von mir verstecken muss, um mich zu schützen.

Aber ich weiß auch, dass diese negativen Reaktionen nicht berechtigt sind. Ich bin gut und genau richtig, wie ich bin. Da gibt es nichts, was man verstecken muss. Das gilt sowohl für meine lesbische Lebensform als auch für mein körperliches Anders-Sein. Basta.

Dieser Artikel ist ein Ausschnitt aus einem längeren Text, den ich für ein Coming-Out-Buch mit Interviews mit „behinderten“ Lesben und Schwulen geschrieben habe. Link zum kompletten Text und weiteren Texten von mir.

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