Teil 8: Drinnen oder draußen?

Mosaiksteine über das Zusammenleben von nichtbehinderten und behinderten Menschen.

Frau im Rollstuhl vor Stufen. Sie schreit
Ruhm, Dipl.-Psych. Kassandra

Behindert zu sein bedeutet mehr, als körperliche, kognitive oder psychische Einschränkungen zu haben. Zumindest für mich bedeutet behindert sein auch, immer wieder vor der Frage zu stehen, ob man in der Gesellschaft und in bestimmten Gruppen drinnen oder draußen, in der warmen Mitte oder am Rand steht oder an welchen Orten dazwischen man sich bewegen kann.

Kürzlich habe ich in meinem Artikel „Bloß nicht zur Last fallen?“ über eine Feier geschrieben, bei der ich nicht erwünscht war, weil die Gastgeberin es als zu große Belastung empfand, mir als Rollstuhlfahrerin beim Überwinden der Stufen zu ihrer Wohnung zu helfen. Dabei hätte ich sogar gewusst, wie ich mit nur ganz wenig Rücksichtnahme von ihr bis zu ihrer Wohnung hätte hochklettern können. An dem Abend habe ich definitiv draußen gestanden.

Noch häufiger als bei solch drastischen Erlebnissen von Ausgrenzung fällt mir das Problem, wie schwierig Geselligkeit sein kann, an einer andern Stelle auf. Ich finde es nämlich ziemlich schwer, in Cliquen herein zu kommen, in denen nicht sowieso mehrere RollstuhlfahrerInnen sind.

Wo man sich trifft

Meist fällt es mir leicht, in Gruppen herzlich aufgenommen zu werden, wenn sie sich unabhängig von mir schon in rollstuhlzugänglichen Räumen treffen und außerdem keine größeren negativen Vorurteile über behinderte Menschen im Weg stehen. Aber manchmal will ich auch noch mit andern Leuten zu tun haben. Zum Beispiel, weil ich mich unter anderen Lesben oder Feministinnen bewegen möchte oder unter ZeitgenossInnen, die ähnliche kulturelle oder politische Interessen haben, wie ich.

Das geht mehr oder weniger gut, wenn ich Einzelkontakte pflege. Aber auch die muss ich oft richtig pflegen, weil man sich nicht sowieso zufällig regelmäßig begegnet. Mein nichtbehindertes Gegenüber trifft an den verschiedensten, meist nicht barrierefreien Szene-Orten ohne großen Aufwand Gleichgesinnte. Um mich zu treffen, sind jedoch Verabredungen und Planungen wegen der Barrierefreiheit nötig. Wenn diejenige nicht extra darüber nachdenkt, kommt es deshalb automatisch dazu, dass sie sich mit mir seltener trifft, als mit andern.

Deshalb sind Einzelkontakte für mich oft aufwendiger als für nichtbehinderte Menschen. Aber mit entsprechendem Engagement kann ich einiges ausgleichen. Doch wenn ich in Cliquen hinein kommen möchte, gibt es ein größeres Problem.

Die allermeisten Leute wohnen hinter Stufen

Häufig treffen sich Menschen, vor allem solche, die bestimmten Subkulturen angehören, ohne große Planung an irgendwelchen Treffpunkten, die nicht barrierefrei sind. Dann bin ich automatisch erstmal nicht dabei. Oder man trifft sich „mal eben“ auf ein Bier bei jemandem zu Hause.

Die allermeisten Leute, die ich kenne, wohnen hinter Stufen. Für richtige Feiern werde ich – hoffentlich – eingeladen, aber für unkomplizierte Treffen nicht. Das ist ja zu aufwendig und außerdem bestimmt zu belastend für mich.

Stimmt, es ist eine Belastung für mich, mal eben die Stufen zu überwinden. Das kann ich nur in Ausnahmefällen machen.

Ich weiß nicht, wie viele Abende mit gemeinsamem Krimi-Gucken oder Spielen und danach noch einer Runde schnacken mir entgangen sind, weil Fernseher und Sofa im ersten Stock standen und ich deshalb gar nicht erst eingeladen worden bin.

Fehlende Barrierefreiheit – ein Teufelskreis

Wenn ich schon alle aus einer Clique kenne, gibt es eine Chance, dass sie sich die Mühe machen, die Treffen zu verlegen und Rücksicht zu nehmen, zumindest bei einem Teil der Treffen. Aber normalerweise kommt man erst über eine Reihe von Treffen in Gruppen hinein.

Na ja, und zu genau dieser Reihe von unkomplizierten Treffen kommt es nicht, weil ich – wegen der fehlenden Barrierefreiheit der meisten Privatwohnungen und anderen Treffpunkte – gar nicht erst dabei bin. Dadurch ergibt sich automatisch, dass ich kein richtiger Teil der Cliquen werde. Es ist ein Teufelskreis.

Als gute Alternative bleibt, sich mehr mit andern behinderten Menschen zu treffen. Oder mit nichtbehinderten, die aus anderen Gründen bereit sind, Rücksicht zu nehmen, ohne ein großes Problem daraus zu machen.

Das müssen keine schlechteren Kontakte sein, vielleicht sogar im Gegenteil. Aber es wäre schön, seine Bekanntschaften frei und nicht nach baulichen Kriterien aussuchen zu können. Besonders wenn man mehr als einer Minderheitengruppe angehört.

Ich vermute, dass ein großer Teil behinderter Menschen einen kleineren oder anders zusammen gesetzten Freundes- und Bekanntenkreis hat, als sie es als nichtbehinderte hätten.

Mühsam, hinterherzuhinken?

Ich nehme an, dass ein gemeinsames Leben leichter ist, wenn man zwar behindert ist, aber ohne Probleme Stufen überwinden und alle Treffpunkte und Privatwohnungen erreichen kann.

Dann bleibt immer noch das Problem, dass man vielleicht manchmal hinterherhinken muss und sich anstrengen, um mit den andern Schritt zu halten.

Egal, ob es wörtlich genommen ums Laufen geht oder ob man z.B. schwerhörig ist und sich ziemlich anstrengen muss, um Gesprächen folgen zu können. Je nachdem, wie viel Rücksicht die andern nehmen. Und gerade bei nicht-sichtbaren Behinderungen ist es schwierig, genug Rücksichtnahme zu bekommen.

Ebenso anstrengend ist es, wenn man sprachbehindert ist und versucht, seinen Worten das gleiche Gehör zu verschaffen. Oder wenn man sich damit auseinander setzen muss, dass man mit der eigenen, ganz normalen, behinderten Erscheinung die Sehgewohnheiten der andern bricht.

Wer durch bauliche Barrieren nicht abgehalten wird, kann zwar prinzipiell dabei sein, aber manchmal ist es mühsamer und man hat nicht die gleiche Stellung innerhalb der Gruppe, die man als Nichtbehinderte/r hätte.

Ängste vor behinderten Menschen

Dazu kommt das Problem, dass sich negative Behindertenbilder in privaten Kontakten auswirken können. Wenn jemand Ängste vor behinderten Menschen hat oder denkt, sie wären arm dran oder weniger intelligent und attraktiv als nichtbehinderte oder würden zu viel Hilfe von ihm brauchen, wird er weniger den Kontakt suchen.

Wenn ich höre, dass jemand „ganz normale“ abwertende Einstellungen gegenüber behinderten Menschen vertritt oder sich in einer anderen Situation behindertenfeindlich verhalten hat, fühle ich mich in Gegenwart dieser Person weniger wohl.

Kürzlich saß ich in einem integrativen Theaterprojekt an einem Cafetisch und musste mir anhören, wie meine nichtbehinderten Tischnachbarinnen sich darüber ausließen, wie eine behinderte Frau ihre Sexualität leben solle und ob sie Kinder bekommen dürfe. Kurz vorher hatte ich noch nett mit ihnen gescherzt. Nachdem ich ihre Diskussion mit angehört hatte, war mir nicht mehr nach einem gemeinsamen Scherzen zumute.

Wenn ich der Gastgeberin, die mich wegen meiner Behinderung ausgeladen hat, auf einer anderen Privat-Party begegne, werde ich mich weniger fröhlich und ausgelassen fühlen, als ohne sie.

Natürlich mag ich genauso wenig, wenn jemand sich latent rassistisch äußert. Aber da kann ich gegen halten, ohne in meiner eigenen Persönlichkeit verletzt zu werden.

Die Verlierer sind beide Seiten

Verlierer dieser alltäglichen, unauffälligen Ausgrenzung sind beide Seiten. Die Standard-Gesellschaft verliert viele schöne, bunte, nicht-standardisierte Begegnungen mit uns und ein freieres Bild von Normalität.

Ich habe viele Gründe beschrieben, aus denen Menschen mit Behinderung manchmal draußen stehen oder gleich andere Orte für sich wählen. Aber daneben sollte nicht unter den Tisch fallen, dass dies nur die negativen Beispiele sind! Die ärgern mich und deshalb habe ich sie aufgeschrieben. Weil ich finde, dass sich etwas daran ändern sollte.

Erste Schritte

Eine Analyse kann der erste Schritt zu Veränderungen sein. Aber das heißt nicht, dass es nicht auch viele positive Situationen zwischen nichtbehinderten und behinderten Menschen gibt! Wenn ich bei meiner Arbeitsstelle durch die Gebäude sause, erlebe ich jeden Tag mehrere einfach schöne, selbstverständliche Begegnungen mit nichtbehinderten Menschen.

Diese positiven Beispiele vom Zusammenleben sollten die Normalität sein, deshalb habe ich sie nicht extra aufgeschrieben. Vielleicht hole ich das ein anderes Mal nach oder jeder überlegt sie sich selbst.

Dieser Artikel ist eine Kurzfassung von einem Text, der auch in voller Länge sehr lesenswert ist! Link zur längeren Fassung.

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0 Kommentare

  • Hallo Erika! Stimmt, das ist wirklich fürchterlich, wenn andere einem die eigenen Einschränkungen immer wieder absprechen und sie nicht berücksichtigen! Hast Du nicht Lust, darüber mal einen (oder mehrere) BIZEPS-Artikel zu schreiben?
    Das Thema nicht-sichtbarer Behinderungen kommt oft etwas kurz. Da ist es leichter, über so „handfeste“ und leicht greifbare Dinge zu reden, wie Barrierefreiheit für RollstuhlfahrerInnen (und nicht für alle andern Gruppen von behinderten Menschen).
    In den Texten auf meiner Homepage habe ich nicht-sichtbare Behinderungen zweimal kurz angerissen, aber man könnte und sollte viel mehr dazu schreiben!

    Falls Du gucken magst:

    kassandra.erinatranslations.de/content/texts/Ariadne%20Coming%20Out.pdf
    Seite 10/11 und

    kassandra.erinatranslations.de/largeFontsize/lieberlebendig23.shtm

    Korrekterweise müßte mein Artikel „Drinnen oder draußen? aus der Sicht von RollstuhlfahrerInnen“ heißen.

    Von meinen eigenen Einschränkungen ist auch nur ein Teil sichtbar. Auf meinen Rollstuhl kommen viele negative Reaktionen und Ausgrenzungen von außen. Aber von meinem eigenen Empfinden her gesehen finde ich es weniger einschränkend, nicht rumlaufen zu können, als die Schmerzen, die häufige Erschöpfung und öfter das Gefühl, krank zu sein. Aber das fällt nach außen nicht auf. Auch ich höre dann oft, ich würde doch „strahlend“ oder „blendend“ aussehen.
    Aber im Gegensatz zu Dir hilft mir mein Rollstuhl: Wenn ich sage, dass ich etwas nicht kann, wird es mir meistens schnell geglaubt. Auch wenn man es von außen eigentlich nicht sehen kann. Durch meinen Rollstuhl bin ich für die andern „doll behindert“ und dann ist ihnen schnell einsichtig, dass ich viel nicht kann…


    Hallo Herr „ein netter Mensch“,

    stimmt, Liz Carr ist wirklich cool.

  • Hallo Kassandra! Und Danke noch einmal für Deine Beiträge. Ich will ein anderes Beispiel bringen, weil der Begriff „Behinderung“ sehr vielfältig ist: z.B. wenn die körperliche Behinderung kaum sichtbar ist (aber sehr wohl vorhanden!), wenn sehr starke chronische Schmerzen teils deines Lebens sind und dein ganzer Körper davon betroffen ist. Weil du ja „normal“ ausschaust, wird alles von dir verlangt, Arbeit inklusiv; aber du kannst es nicht und wenn du es sagst, wirst du nicht wahrgenommen, die Leute glauben es nicht, nicht einmal die Behörde oder die Ärzte, bis du dich ausziehst und es sehr wohl sichtbar wird und durch die Befunde sowieso („Mein, Gott! Das hätte ich nie vermutet!!“).

    Und so ist es ein dauern, tägliches Erklären zu müssen, in jedem Lebensbereich, sogar bei deinem eigenem Mann: warum du nicht gehen kannst (manchmal fühlen sich die Schmerzen plötzlich so an, wie bei einem Knochenbruch), warum du müde bist, warum du liegen musst und nicht ausgehen kannst („hey, du bist langweilig!“) warum du von der Arbeit ausbleiben musst („was ist denn schon wieder??“) und warum das Arbeiten so schwer fällt und du bist erschöpft, warum, warum … Man hat den Eindrück, ständig um Verständniss zu betteln.
    Was ich sagen wollte: nicht immer sind die Hindernisse tatsächlich materiell, z.B. Stufen … wenn deine Kraft nicht reicht, um diese Stufen zu steigen, dann musst du sowieso dein Leben einschränken, und mit Leuten rechnen, die sich sogar beileidigt fühlen, weil du kurzfristig absagst, du musst mit dem Verdacht deiner Vorgesetzten und Kollegen rechnen, die den Ausmass von deinen gesundheitlichen Problemen nicht „sehen“, und dann fängt wie immer ein anderer Tag an, wo du schon beim Aufstehen atemlos bist vor Schmerzen und die Leute sagen: „Wie gut du ausschaust!“, Na, ja, mir geht, nicht so gut … „Naaa, das kann nicht sein!“. Das kann aber sehr wohl sein.

  • „Aber manchmal will ich auch noch mit andern Leuten zu tun haben. […] unter ZeitgenossInnen, die ähnliche kulturelle oder politische Interessen haben, wie ich.“

    „Aber es wäre schön, seine Bekanntschaften frei und nicht nach baulichen Kriterien aussuchen zu können“

    Obige Erkenntnisse könnte von mir stammen… Ich sehe es genau so.

    Allgemein muß ich zustimmen, daß eine echte „Pflege“ der Kontakte notwenidig ist, da man sich im öffentlichen Raum seltener spontan trifft. Mein Paradebeispiel, als Rollstuhlfahrer, ist: Ich bin im Aufzug und meine Kontakte werden im Stiegenhaus oder auf der Rolltreppe sein, wir werden einander also nicht gewahr.
    Anderes Beispiel: In meiner Stadt gibt es viele Durchhäuser (= öffentlich zugängliche Abkürzungen über Privatgrund, buchstäblich durch ein Haus hindurch) wo Stufen sind. Wieder sind wir einander nicht gewahr, weil ich einen Umweg nehmen muß, den ein „Geher“ niemals nehmen wird.

    Es schmertz mich auch, daß spotane Unternehmungen für mich nur sehr eingeschränkt möglich sind, ob der notwendigen Planung.

    Ich erlaube mir als Ergänzung zum Artikel noch den Hinweis auf „die Verschwendung von Lebenszeit durch Wartezeit“ machen: http://www.bbc.co.uk/ouch/opinion/forever_waiting.shtml (auf Englisch)
    Für jene die nicht Englisch können: Die Tortenkreis-Graphik sagt doch alles, oder?