Tiroler Monitoringausschuss nimmt Gemeinden in die Pflicht: Barrierefreiheit konsequent und umfassend umsetzen

Im Zentrum der 14. öffentlichen Sitzung des Tiroler Monitoringausschusses, die am 9. Mai 2022 im Landhaus in Innsbruck stattfand, standen die Orte, an denen Menschen mit Behinderungen ihren Lebensmittelpunkt haben: die Gemeinden.

Isolde Kafka
Land Tirol

„Den Gemeinden kommt bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention eine Schlüsselrolle zu. Ihre Verantwortungen reichen von der Kinderkrippe über die Schule bis hin zum Vereinswesen und dem gesamten öffentlichen Raum. Damit Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben in den Gemeinden teilhaben können, braucht es eine konsequente und umfassende Barrierefreiheit“, betont Isolde Kafka, Vorsitzende des Tiroler Monitoringausschusses.

Betroffene und weitere ExpertInnen beleuchteten im Rahmen der öffentlichen Sitzung die unterschiedlichen Aspekte, die es dabei von und in Gemeinden zu berücksichtigen gilt. Untermauert wurden die Vorträge durch die Ergebnisse der tirolweiten Gemeindebefragung zum Thema Barrierefreiheit, Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.

„Mit einer Rücklaufquote von 98 Prozent konnten mit der Umfrage fast alle 277 Tiroler Gemeinden erreicht werden. Die Reaktionen reichen von äußerst positiven und bemühten Rückmeldungen bis hin zu Desinteresse und Unverständnis. Dies zeigt, dass bei einigen Gemeinden noch weiterer Sensibilisierungsbedarf besteht“, berichtet Kafka.

Eine objektive Aussagekraft kann den Ergebnissen – da die Selbsteinschätzung der Gemeinden erhoben wurde – nicht zugemessen werden.

Barrieren abbauen – mit Plan

Gemeinsam mit Hannes Lichtner, Geschäftsleiter der Interessensvertretung für Menschen mit Behinderungen ÖZIV Tirol stellte Kafka den „Aktionsplan Behinderung“ für die Tiroler Gemeinden vor. Mit diesem will der Tiroler Monitoringausschuss die Gemeinden auf dem Weg hin zu Barrierefreiheit, Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen unterstützen.

„Anhand von konkreten Handlungsfeldern aus den verschiedensten Lebensbereichen sowie Checklisten und Fachangeboten soll der Aktionsplan je nach Gemeinde ersichtlich machen, was auf dem Weg dahin bereits umgesetzt wurde und welche Bereiche noch ausbaufähig sind. Der ‚Aktionsplan Behinderung‘ ist daher sowohl als kurz- und mittelfristiger, wie auch als langfristiger Handlungs- und Etappenplan zu verstehen“, erklärt Kafka.

Ein erster Umsetzungs- und Reflexionsprozess mit Pilotgemeinden startet bereits dieses Jahr.

Barrierefreiheit korrekt umsetzen

Unter einer „konsequenten Barrierefreiheit“ verstehen Bernhard Gruber, Mitglied des Monitoringausschusses und allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger im Bereich Hochbau und Architektur sowie Gerhard Wieser, Berater für Barrierefreiheit beim ÖZIV Tirol die Berücksichtigung aller Teilbereiche eines Angebots bzw. einer Einrichtung, die Menschen mit Behinderungen eine selbstständige Nutzung ermöglichen.

„In der Praxis merken wir oft, dass Barrierefreiheit zwar angedacht, aber nicht von Anfang bis Ende durchgezogen wird. So treffen Menschen mit Behinderungen etwa auf barrierefreie Veranstaltungsräume ohne barrierefreie Toiletten, eine Rollstuhl-Rampe mit einer Stufe am Ende oder ein Blindenleitsystem, das ins Nichts führt“, beschreibt Gruber.

Laut den Ergebnissen der Gemeinde-Befragung holen aktuell weniger als 40 Prozent der Gemeinden Sachverständige für barrierefreies Bauen ins Boot. GemeindebürgerInnen mit Behinderungen werden nur in sieben Prozent der Fälle eingebunden.

Barrieren betreffen viele Menschen

„Barrierefreiheit muss umfassend gedacht werden. Von Barrieren betroffen sind nämlich nicht nur Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, sondern auch Menschen mit Seh- und Hörbehinderungen, Menschen mit Lerneinschränkungen und psychischen Problemen sowie situationsbedingt auch Menschen ohne Behinderungen, wie etwa ältere Menschen oder Menschen mit Kindern. Auf deren Anforderungen wird vielfach jedoch unzureichend eingegangen“, beschreibt Kafka.

So hinken die Gemeinden, wie die Umfrage zeigt, etwa in Bezug auf Maßnahmen für blinde und sehbehinderte Menschen hinterher: Straßenübergänge sind kaum bis gar nicht mit taktilen Leitsystemen oder akustischen Signalen versehen und auch das Freizeitangebot für blinde und sehbehinderte Menschen ist rar gesät.

Den Feueralarm nicht wahrnehmen können zu können, ist etwa ein Problem, auf das hörgeschädigte Menschen im Alltag treffen, wie Monika Mück-Egg, Mitglied des Monitoringausschusses und Verbandsleiterin vom Gehörlosenverband Tirol sowie Sebastian Fehr vom Tiroler Monitoringausschuss erklären. Sie fordern mehr Funkübertragungsanlagen, GebärdensprachdolmetscherInnen und die Einbindung von Betroffenen und ExpertInnen in die Gemeinde.

Daran schließt auch Monika Rauchberger, Mitglied des Tiroler Monitoringausschusses und Projektleiterin bei der Beratungsstelle für Menschen mit Lernschwierigkeiten Wibs an: „Es braucht eine Ansprechperson in der Gemeinde, die Menschen mit Lernschwierigkeiten dabei unterstützt, Anträge zu schreiben, Wohnungen zu suchen oder eine Arbeit zu finden.“

In Bezug auf die digitale Barrierefreiheit gaben rund drei Viertel der befragten Gemeinden an, über barrierefreie Websites zu verfügen. Texte in leichter Sprache sowie eine Aufbereitung für die Kompatibilität mit Screen Readern – wie sie blinde und sehbehinderte Menschen nutzen – konnten indes laut Angabe nur rund die Hälfte der Gemeinden vorweisen.

Ein häufiger Fehler sei etwa, Dokumente als Scan auf die Website zu laden, beschreibt Daniela Friedle von der Ombudstelle für Barrierefreies Internet. Als Monitoring- und Beschwerdestelle überwacht diese stichprobenartig, inwieweit Websites und mobile Anwendungen des Landes, der Gemeinden und von Körperschaften öffentlichen Rechts, die durch Landesgesetze eingerichtet wurden, barrierefrei sind.

10 von 272 Gemeinden schätzen sich als umfassend barrierefrei ein

Von allen an der Befragung teilnehmenden Gemeinden beschrieben sich nur zehn als umfassend barrierefrei. Über 90 Prozent rechneten sich allerdings auf der Barrierefreiheitsskala der oberen Hälfte zu.

„Ein gutes Beispiel für die doch schon weitgehende Umsetzung von Barrierefreiheit ist die Zugänglichkeit zu Wahlen. 85 Prozent der Wahllokale in Tirol sind barrierefrei und 90 Prozent bieten darüber hinaus mobile Wahllokale und verschiedene andere Unterstützungsmöglichkeiten an“, sagt Kafka.

Anders sieht es in Bezug auf den Inhalt der Parteiprogramme und die Zusammensetzung der Gemeinderäte aus: Unter zehn Prozent der befragten Gemeinden gaben an, dass Menschen mit Behinderungen bzw. deren Anliegen dort vertreten sind. Der Tiroler Monitoringausschuss fordert daher die aktive Einbindung von Menschen mit Behinderungen in Gemeinden, sei es bei Bauverfahren wie auch in der lokalen Politik.

Hier können die Ergebnisse der Gemeinde-Befragung eingesehen werden.

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