BIZEPS führte mit Dr. Markus Wolf, Präsident des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Österreich (BSVÖ), ein schriftliches Interview. Er erläutert darin ausführlich die aktuellen Entwicklungen und Probleme.
BIZEPS: Haben Sie schon Erfahrungen mit den nahezu geräuschlosen Elektro- und Hybridfahrzeugen gemacht?
Markus Wolf: Ja, auch in Wien gibt es schon ziemlich viele geräuscharme Fahrzeuge, von Straßenbahnen über Taxis bis zu Privatwägen. Diese stellen für sehbeeinträchtigte Menschen eine erhebliche Gefahr dar.
BIZEPS: Sind Sie der Meinung, dass dies für blinde und sehbehinderte Menschen zu lebensgefährlichen Situationen im Straßenverkehr führen kann?
Markus Wolf: Blinde und sehbehinderte Menschen schätzen primär mithilfe des Hörsinns ein, ob eine Situation gefährlich ist oder nicht, ob der Weg für sie frei ist oder nicht. Das ist bei geräuscharmen Fahrzeugen erst in allerletzter Sekunde oder gar nicht rechtzeitig möglich.
Beeinträchtigung der selbstständigen Mobilität
BIZEPS: Was bedeutet dieser Trend zu Elektro- und Hybridfahrzeugen die selbstständige Mobilität für blinder und sehbehinderter Menschen?
Markus Wolf: Der Trend zu Elektro- und Hybridfahrzeugen bzw. anderen geräuscharmen Kraftfahrzeugen bedeutet eine stark erhöhte Gefahr, permanenten Stress und eine massive Verunsicherung im Straßenverkehr für sehbeeinträchtigte Menschen. Bei jedem Überqueren einer Straße muss extrem aufgepasst werden und trotzdem ist ein sicheres, unfallfreies Queren bei weitem nicht garantiert.
Man kann sich gut vorstellen, dass viele sich dieser lebensgefährlichen Situation, mit der sie im Alltag auf jedem einzelnen Weg, den sie gehen, konfrontiert sind, nicht gerne aussetzen und daher vermehrt auf Unterstützung angewiesen sein werden. Die Beeinträchtigung der selbstständigen Mobilität und somit der Selbstständigkeit und des persönlichen Handlungsfreiraums ist also enorm.
BIZEPS: Glauben Sie, dass auch andere Personengruppen, wie ältere Menschen und Kinder durch die geräuschlosen Fahrzeuge gefährdet sein könnten?
Markus Wolf: Auch für Kinder und ältere Menschen stellen diese Fahrzeuge sicher eine erhöhte Gefahr dar, da Kinder oft unaufmerksamer im Straßenverkehr sind und ältere Menschen manchmal eine verlangsamte Reaktion haben – beide Faktoren sind für das Wahrnehmen von geräuscharmen Fahrzeugen kritisch. Aber auch für andere Verkehrsteilnehmer bringt die schlechte Hörbarkeit Probleme und potentielle Gefahren mit sich.
Man darf nicht vergessen, dass auch sehende Menschen sich im Verkehr zum Teil akustisch orientieren – beispielsweise leiten auch Radfahrer, da sie ja keine Rückspiegel haben, mit denen sie sich visuell orientieren können, viel von dem, was hinter ihnen im Verkehr passiert, über die akustischen Wahrnehmungen ab.
Warngeräusche sind absolut notwendig!
BIZEPS: Ist es richtig, dass in den USA schon ab September 2014 Warngeräusche verpflichtend in Elektro- und Hybridfahrzeuge eingebaut werden müssen? Soll das auch bei uns in Europa verpflichtend werden?
Markus Wolf: Ich bin jetzt nicht ganz sicher ab wann die Warngeräusche in den USA verpflichtend sind, ich weiß aber, dass die Amerikaner den Europäern in dieser Frage deutlich voraus sind. Warngeräusche werden auch in Europa verpflichtend, allerdings erst ab 2019 für neue Fahrzeuge und 2021 für Fahrzeuge, die schon jetzt oder bis dahin den Verkehr verunsichern.
Warngeräusche sind absolut notwendig! Der Blinden- uns Sehbehindertenverband Österreich (BSVÖ) hat sich zusammen mit seinen Partnern in der Europäischen Blindenunion (EBU) auf europäischer Ebene für eine sichere Lösung für alle eingesetzt. Leider hat der Rat der Europäischen Union dem Druck der Autoindustrie nachgegeben und lange Übergangsfristen eingeräumt.
Das ist für uns inakzeptabel und wir werden weiter kämpfen, damit das geändert wird.
Wolf: Geräusche sollten nicht abschaltbar sein
BIZEPS: Viel wird auch um die Details der Warngeräusche diskutiert. Manche sagen, diese sollen abschaltbar sein, andere sind dagegen. Auch bis zu welcher Geschwindigkeit diese notwendig sind, wird diskutiert. Wie lautet diesbezüglich die Position des BSVÖ?
Markus Wolf: Wir vertreten die Position, dass die Geräusche nicht abschaltbar sein sollten. Nun hat die EU beschlossen, dass geräuscharme Fahrzeuge einen Schalter zum Ausschalten des Warngeräusches bis zum nächsten Neustart des Fahrzeuges haben soll. Wir versuchen jetzt, über die nationale Gesetzgebung ein Verbot des Ausschaltens zu erreichen.
Zum Vergleich: Fahrzeuglichter sind abschaltbar, aber es ist gesetzlich geregelt, dass nachts nur mit Licht gefahren werden darf – andernfalls wären sie unsichtbar und somit eine große Gefahr für alle Verkehrsteilnehmer. Mit unhörbaren Fahrzeugen verhält es sich nicht anders. Daher brauchen wir für geräuscharme Fahrzeuge eine entsprechende Regelung. Das Geräusch kann zwar abschaltbar sein, wenn es nicht gebraucht wird, d.h. wenn das Fahrzeug aufgrund anderer Faktoren verlässlich ausreichend hörbar ist. Ist es das aber nicht, so darf es keine Möglichkeit geben, es auszuschalten.
Die Aufgabe des BSVÖ ist es, auf Probleme hinzuweisen, z.B. dass diese Fahrzeuge nicht gehört werden können, dass ein Geräusch nicht geeignet ist, weil es nicht in allen Verkehrssituationen ausreichend wahrgenommen wird usw.
Bis zu welcher Geschwindigkeit das Warngeräusch unbedingt notwendig ist, muss – natürlich unter Einbindung betroffener Personen – wissenschaftlich getestet werden. Das Kuratorium für Verkehrssicherheit hat gerade eine Studie namens „DrivEkustik“ zum Thema Hörbarkeit von Elektrofahrzeugen herausgegeben. Dort wurde genau das gemacht: wissenschaftliche Studien unter Einbeziehung blinder und sehbehinderter Menschen (in dem Fall des BSVÖ).
Die Studie ergibt ganz klar, dass ein Warngeräusch erforderlich ist. Allerdings trifft sie über die Details der Gestaltung leider noch keine so konkreten Aussagen. Die EBU hat 40 km/h vertreten, der Rat hat 20 km/h angenommen. Meines Erachtens müssen das die Verkehrsexperten im Sinne der Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer klären und wenn notwendig, den Wert nachverhandeln und anpassen.
BIZEPS: Wir danken für das Interview.